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Mieze Geizhals.
Von E. S.
Es war einmal ein kleines Mädchen, die hieß Mieze; sie war im allgemeinen ein recht artiges Kind, nur einen großen Fehler hatte sie: sie mochte das, was sie hatte, mit Keinem teilen. Wenn sie etwas Gutes zu essen bekam, so verzehrte sie es am liebsten allein; nicht einmal ihrem lieben Schwesterchen gab sie etwas davon ab. Deshalb wurde sie von allen Mieze Geizhals genannt — ein recht häßlicher Name, nicht wahr? Schwesterchen war ein ganzes Jahr jünger als Mieze, aber schon viel verständiger; denn wenn man Schwesterchen etwas schenkte, so ruhte es nicht eher, als bis auch Mieze etwas davon erhielt.
Einmal, da wurde nun Mieze von der Mutter zum Kaufmann geschickt, der in der Nähe wohnte. Der Kaufmann gab Mieze einen mächtigen rotbäckigen Apfel und sagte: „Da, laß ihn Dir schmecken!" und Mieze lief fröhlich aus dem Laden. Ihr glaubt nun wohl, Mieze sei nach Hause gegangen, um Schwesterchen von dem schönen Apfel ein Stück abbeißen zu lafsen, so wie es ein wirklich artiges Kind gethan hätte? Oh nein! Sie versteckte sich im Garten hinter einen großen Busch, kauerte sich auf die Erde nieder und, indem sie recht herzhaft in den saftigen Apfel biß, fügte sie immer vor sich hin: „Deiner soll davon was haben, teiner soll davon was triegen." Nach einer Weile hörte sie, wie sie von Schwesterchen gerufen wurde. Weil aber der Apfel noch nicht aufgezehrt war, fürchtete sie, am Ende doch etwas davon abgeben zu müssen, und schwieg still. Schwesterchen rief und rief, und als es müde von dem vielen Schreien wurde, lief es weg.
Als nun der Apfel mitsamt den Kernen und der Schale in Mieze Geizhals' Magen verschwunden war, kicherte Mieze seelenvergnügt vor sich hin und sagte: „Nu tann teiner mehr was davon bekommen, ätsch!" Dann ging sie ins Haus. Schwesterchen war noch immer sort; erst nach einer langen Weile kam es wieder. „Wo bist Du denn dewesen?" frug Mieze Geizhals. Da sagte Schwesterchen: „Hab dis besucht und besucht und derufen und berufen, aber hab bis nist befunden. Der Doktor ist dadewesen und hat mir eine troße Düte voll Kuchen desenkt. Hab dis besucht und desucht. Da hab ich die tleine Anna bedegnet und is und die Anna haben so Hunger dehabt und Du bist nist dadewesen. Da hab is der Anna Tuchen dedeben und is hab Tuchen dedessen; alle Tuchen haben wir dedessen, und is bin so satt. Wo bist Du denn dewesen, Mieze?" Da schämte sich Mieze und gab keine Antwort. Sie schlich ganz füll hinaus, wieder in ihr Versteck im Garten hinter dem Busch, und weinte. Jetzt wußte sie, wie der Geiz — abgesehen von seiner Häßlichkeit — auch Schaden bringen kann.