ORNITHOLOGISCHE MITTEILUNGEN

11. Jahrgang

Nr. 8

August 1959

Kritisches zur Beobachtung einer seltenen Großmöwe im Juni 1958 am Chiemsee

Von Andreas Suchantke, Arlesheim Eines der wohl schwierigsten und heikelsten Themen für den Feldbeobach­ter stellen die Formen der Silber- und Heringsmöwe (Larus argentatus und L. fuscus) dar. Wie es einem dabei ergehen kann, möge folgendes Beispiel de­monstrieren.

Am 7. Juni 1958 machte ich die frühmorgendliche Runde im Boot um die flachen Schlick- und Schotterbänke im breit sich in den Chiemsee öffnenden Mündungsgebiet der Tiroler Ache. Diese Landschaft, die in ihrer Abwechslung von größtenteils bewuchslosen, schlammigen Inseln mit seichten Wasserarmen im kleinen recht meerstrandähnlich wirkt, ist ein beliebter Rastplatz für Li- micolen und übt auf die verschiedensten Lariden eine große Anziehungskraft aus. Neben den hier als Brutvögeln vorkommenden Flußseeschwalben (Sterna hirundo) sind es in der Hauptsache Lachmöwen (Larus ridibundus), Sommer­rastvögel, die das reichhaltige Anspülicht des Flusses herbeilockt. Übersom- mernde, 1957 in einem Paar sogar brütende Sturmmöwen (Larus canus) ge­sellen sich dazu und vom Mai bis in den Herbst gab eine junge Heringsmöwe (Larus fuscus subsp.) eine ausgiebige, standortstreue Gastrolle. Seltene Mö­wen und Seeschwalben, die als Durchzügler oder Irrgäste auftauchen, sind fast alle an dieser Stelle beobachtet worden.

Mein Erscheinen nun veranlaßte die Bewohner und Gäste zum Auffliegen, und sofort fiel mir in der lockeren Wolke der um und über mir fliegenden Vögel eine große Möwe auf, deren satter, dunkel-mausgrauer Mantel mit dem blendenden Weiß des übrigen Körpers und dem Orangegelb der Füße und des Schnabels in auffallender Weise kontrastierte. Wenig scheu, umflog mich das Tier einigemale in größeren und kleineren Kreisen, wobei sich zeigte, daß die Oberseite ungleich dunkler als bei den kleineren Sturmmöwen war, von dunk­lem, gedecktem Grau, ohne dabei aber schwarz oder auch nur schwärzlich zu wirken. Eine Heringsmöwe also, und zwar ein Stück der westlichen Form (Larus fuscus graellsii), da die mir gut bekannte, schwarzmantelige skandi­navische Heringsmöwe (Larus fuscus fuscus) als viel zu dunkel ausschied. Später, gegen Mittag, zeigte sie sich noch ein zweitesmal und flog niedrig am Strand vor der Beobachtungshütte in Gesellschaft einiger Lachmöwen auf der Suche nach Angespültem herum, aus meiner Deckung auf 2025 m sichtbar. Zuletzt ließ sich der seltene Besucher auf einer ufernahen Schlickbank nieder und ruhte hier dicht neben den beiden Sturmmöwen und der auch diesmal nicht fehlenden unausgefärbten Heringsmöwe. Eine Beobachtung mithin, wie man sie sich schöner und ausführlicher kaum hätte wünschen können, dargeboten wie auf dem Präsentierteller.

Und doch ist ein sicheres Ansprechen der westlichen Heringsmöwe abseits der Brut- und Winterungsgebiete letztlich nicht möglich, da sie im Felde nicht von der nordrussischen Silbermöwenform Larus argentatus antelius (= heug- lini) zu unterscheiden ist. Stegmann bemerkt in seiner grundlegenden Mono­graphie des Rassenkreises der Silber- und Heringsmöwen, daß sich diese bei­den Formen bis zu fast vollständiger Identität gleichen und selbst einzelne Bälge oft nur schwer zu bestimmen seien. Das Brutgebiet von antelius liegt an der nordrussischen und dem angrenzenden Teil der sibirischen Eismeer­küste, nach Westen bis zur Kaninhalbinsel, Dwina-Mündung, und in isolier-

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