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Der Schöpfer hat der Auster zwar keine Augen verliehen, wohl aber eine grosse Empfindlichkeit für den Wechsel des Lichts und dadurch die Fähigkeit gegeben, sich gegen die ineisten ihrer vielen Feinde zu schützen. Sobald der Schatten eines sich nähernden Bootes auf sie fällt, klappt sie ihre Schalen zu, was sie freilich vor dem Austernjäger nicht schützt.
Die Auster ist ein hermaphroditisches Tier, zu deutsch ein Zwitter. Ihre Fortpflanzung wird durch selbst .erzeugte Eier bewirkt, die sie in Gestalt eines grünlichen milchartigen Saftes in sich trägt und im Mai und Juni aus sich entlässt. Betrachtet man diesen Saft durch das Mikroskop, so zeigt sich, dass er aus zahllosen kleinen, bereits mit Schalen versehenen, lustig herumschw immenden Austernkindern besteht. Man hat berechnet, dass ein einziges altes Muttertier 1,728,000 dieser winzigen Jungen in sich trug, andere hatten wieder weniger, andere dagegen über drei Millionen. Ausgebrütet, wenn man so sagen darf, werden die Eier in den Kiemen. Ausgestossen aus der Mutter, treiben sie, von ihren feinen Schalen bedeckt, solange umher, bis sie eine passende Unterlage — wir werden später sehen, wie diese ist gefunden haben. Die Jungen sind sehr bald einige meinen, schon nach vier Monaten — im stände neue Junge zu erzeugen. Wenn die Auster die Grösse eines Thalers erreicht hat, so ist ihre Schale noch immer sehr zart und fein und erst in ihrem dritten und vierten Lebensjahr reift sie für die Tafel.
Sag', wie die Auster ihre Schale macht, fragt der Narr im König Lear. Wir haben darauf keine genügende Antwort, wohl aber können wir nach der Schale sagen, wie alt das betreffende Glied der Austernfamilie ist. Die Auster hat sich ihre Jahre auf den Rücken geschrieben. Jeder einzelne dieser Abschnitte von Blättern bedeutet das Wachstum eines Jahres und so lässt sich ziemlich genau bestimmen, wie alt das Haus und dessen Bauherr ist. Bis zur Zeit der Reife des Tieres sind seine Blätterschichten regelmässig übereinandergelegt,
später werden sie unregelmässig, sodass die Schalen plump und unschön aussehen. Nach der grossen Dicke mancher Schalen zu urtheilen, ist das Tier, wenn es ungestört bleibt, fähig, ein sehr hohes Alter zu erreichen, und man will fossile Austern gefunden haben, deren Gehäusewände neun Zoll stark waren und deren Alter demnach auf mehr als IOO Jahre veranschlagt wurde. Noch jetzt soll man bei Australien Austern finden, die die Grösse eines Tellers erreichen und vollständig zur Sättigung einer Person genügen.
Die junge Familie der Auster bleibt meist in der Nähe der Mutter und daraus erklären sich die gewaltigen Austern- kolonien, Bänke genannt, die man in allen Meeren der gemässigten und heissen Zone antrifft und die bisweilen eine solche Höhe erreichen, dass Schiffe an ihnen scheitern.
Bei Reading in Berkshire (England) findet sich eine versteinerte Austernkolonie, die etwa 2 Fuss dick ist und eine Fläche von 6 engl. Acres bedeckt. Weit ausgedehnter und höher sind die Lager fossiler Austern, welche an der Westküste Amerikas durch vulkanische Gewalt emporgehoben worden sind und eine Fläche von über 7 deutsche Meilen Länge bei einer Breite von '/s~ 5 Meile bedecken. Aehnliche Wunder zeigen die Gestade von Georgia, wo die Auster, ausser Darbietung ihres wohlschmeckenden Fleisches auch noch vor jenem Unglück beschirmt, welches die Bewohner von Schlesw ig-Holstein durch ihre Seedeiche fernhalten. Wie hier, so besteht auch dort der Boden aus schwammigem Alluvialschlamm, der ausserordentlich fruchtbar ist, aber bei heftigen Sturmfluten bei seiner weichen Beschaffenheit diesen nur geringen Widerstand entgegensetzt. Dieses amerikanische Marschland ist so nachgiebig, dass man an vielen Stellen noch 3-^-4 Meilen von der See entfernt einen Eisenstab 10—12 Fuss tief hineintreiben kann. Durch die zahlreichen Flüsse und Bäche wäre dieses Land längst Morast geworden, hätten nicht die Austernbänkc diesem Schaden entgegengearbeitet, indem sie sich nicht nur als Wellenbrecher zwischen Land