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bei uns nicht mehr gestattet. Einzeln sieht man den Seidenschwanz selten, sondern meist immer in Gesellschaft von drei, fünf, sechs und mehr Stück. Nach verschiedenen Mitteilungen sind dieses Jahr im nördlichen Deutschland Flüge von mehreren hundert Stück beobachtet worden. Es geht ihr Zug jedoch unter Umständen soweit südlich, daß sie in der Schweiz, im nördlichen Italien und in Frankreich gesehen werden.
Betreffs seiner Eigenschaften wird der Seidenschwanz vielfach falsch beurteilt — selbst von Autoritäten wie Naumann. Dieser nennt ihn dumm, und viele andere sprechen es ihm nach, die den Vogel wohl gesehen, aber nicht längere Zeit beobachtet haben. Aber schon die neue Ausgabe von »Naumann« weist auf eine von Kollibay in der »Ornith. Monatsschr. 1897« mitgeteilte Episode aus dem Leben dieses Vogels hin, der auf eine nicht zu unterschätzende Intelligenz schließen läßt; da ich zufällig die gleiche Beobachtung machte, kann ich das Gesagte nur bestätigen. Der oben erwähnte Vogelsteller hatte ein schönes Exemplar unseres Seidenschwanzes in einem verhältnismäßig kleinen Käfig in seinem Zimmer hängen. Dieses, eine echte Thüringer Bauernstube mit riesigem Kachelofen, war stets überheizt. So kam es, daß die Trinkgefäße der Vögel rasch austrockneten. Eines Abends zeigte er mir den ihm damals unverkäuflichen Vogel, indem er den Käfig von der Wand nahm und in die Nähe der Lampe brachte. Als der Vogel nun bemerkte, daß sich unsere Aufmerksamkeit auf ihn richtete, sprang er ans leere Trinkgeschirr und machte wiederholt die Bewegung des Trinkens. Er erhielt sofort frisches Wasser und trank in langen Zügen. Dieser Zug deckt sich vollständig mit dem von Kollibay berichteten. Kann man da von Dummheit reden ? — Ferner wird dem Tier der Vorwurf der Trägheit gemacht. Nun, so quecksilbern wie eine Meise oder ein Zeisig ist der Seidenschwanz allerdings nicht; auch nicht so aufgeregt wie eine Amsel. Ist aber der Käfig groß genug, so wird man den Vogel auch umherhüpfen sehen. In kleinen Bauern zieht
er es vor, meistens still zu sitzen. Während er verdaut, sitzt jeder Vogel still. Der Seidenschwanz frißt oft, verdaut oft und sitzt darum oft still.
Sein Appetit ist ja ein sehr reger, besonders wenn er ein wenig nahrhaftes Futter erhält. Eine Drossel aber frißt bedeutend mehr. Der Seidenschwanz verdaut die zu sich genommene Nahrung nicht vollständig, sondern gibt einen Teil unverdaut in Gestalt länglicher Klumpen wieder von sich. Ich füttere gekochte Kartoffeln, zerrieben, mit Kleie, gemahlenem Hanf, trocknen Ameisenpuppen und geriebener Möhre vermischt. Kleie wird soviel zugesetzt als nötig ist, um der Mischung die übermäßige Feuchtigkeit zu nehmen. Das Futter wird jeden Tag frisch bereitet; die Vögel nehmen es gern. Ameisenpuppen können auch zeitweilig fortbleiben, Universalfuttermischungen können ev. beigemengt werden; Beeren sind Lieblingsgerichte. Ed. Neubauer erzählt in der »Gef. Welt«, daß seine Seidenschwänze sich an Körnerfutter gewöhnt hätten, alles mit Ausnahme von Rübsen verzehrten, und ist erstaunt, daß sie an Kartoffeln gehen, die sein Hund verschmäht. Ich habe meinen Seidenschwänzen haselnußgroße Kartoffelstücke hinunterwürgen sehen. Während Naumann und Brehm behaupten, daß gefangene Seidenschwänze keine Kerbtiere annehmen, so berichten andere über Mehlwürmerfütterung. Auch meine fressen Mehlwürmer. Ihr Wasserbedürfnis ist sehr groß.
Frisch eingefangene Seidenschwänze gehen sofort ans Futter, wenn man demselben Ebereschen- oder Wacholderbeeren beimischt. Die Freiheit scheint er schnell zu vergessen, auch gewöhnt er sich leicht an seinen Pfleger. Er ist ein ganz angenehmer Stubenvogel, nur muß man seinen Käfig möglichst alle Tage reinigen, um keinen üblen Geruch aufkommen zu lassen.
Wenn der Seidenschwanz zornig ist, so läßt er ein lautes Knappen mit dem Schnabel hören, ähnlich dem einer Eule. Weder Naumann noch Brehm berichten darüber; auch habe ich sonst nirgends etwas von dieser Eigentümlichkeit gelesen, sodaß ich ziemlich erstaunt war,