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Israelitische« Familienblatt.

Nr. 35.

und die Beträge, die die Ausgabe für diese und das Porto für sie verschlingt, irgend welchen Zwecken der npiJf, der Wohltätigkeit, widmen.

Wenn wir der Armen gedenken, die Tränen von Witwen und Waisen zu trocknen bemüht sind, wir der Hungernden, der Darbenden, der Existenzlosen unserer Glaubensbrüder in den Ländern der Barbarei ge­denken, wenn wir uns der Tausende erbarmen, die subsistenzloS auf der Suche nach einer neuen Heimat umherirren, oder jener noch Mitleidswerteren, die hoffnungslos über den Ozean dem alten Elend und der marternden alten Heimat zuftreben, wenn wir den Kranken, Siechen u. s. w. als Spende das zuwenden, was wir dem Postfiskus durch die Sendung so zahl­reicher Neujahrsglückwünsche zahlen müffen, dann er­füllen wir im besten Sinne ein gottgefälliges Werk, ein Werk, das unfern guten jüdischen Herzen ganz ge­wiß mehr Ehre macht und mehr Befriedigung gewährt, als die Absendung oder der Empfang der allerschönsten Glückwunschkarte.

Darum sei die Adreffe aller unsererGlückwunsch­karten" zum bevorstehenden Noschhaschonoh irgend ein jüdischer Wohltätigkeitsverein', und der Bitte für unserer Lieben und Teuern Glück und Wohlergehen im neuen Jahre diene allein die Andacht im Gottes­hause !

Jakob Wafftmann über das Kos der Jaden.

II.

Wie ist nun das Judentum aus dieser Katastrophe hervorgegangen? Und wie verhält es sich: einmal zu seiner europäischen und dann zu seiner asiatischen Ver­gangenheit? Jene bedeutet Schande, Elend, Niedrigkeit, Finsternis, diese aber Macht, Ehre, Ruhm und große Taten. Die Aufgabe und der Kampf des modernen Juden besteht im wesentlichen darin, daß er jene ver­gesse und diese sich zu eigen mache. Er muß die Wundmale nicht verleugnen, die nun einmal untrennbar sind von seinem Namen, aber er soll auch die Krone nicht vergessen, die einst auf seinem Haupt leuchtete. Inwieweit ihm dies gelingt und ob es ihn zu harmo­nischem Menschentum führt, hängt von seiner Persön­lichkeit ab, von der Intensität seines Willens zur Zu­kunft, und bestimmt zugleich seine Rolle im Staat und in der Gesellschaft.

Ich meine also, die sogenannte Judenfrage ist für den heutigen Juden nichts anderes, als ein Problem des Selbstbewußtseins und der Erweckung großer Traditionen."

(Eine hier en passant über das Wesen der jüdischen Religion zum Ausdruck gebrachte Ansicht Wasser­manns, die mit unserer Auffassung über diesen Gegen­stand in direktem Widerspruch steht, haben wir hier, um eine unnütze Polemik zu vermeiden, weggelassen.)

Von jüdischerNationalität", so fährt dann Wasser­mann fort,will ich nicht sprechen, es ist ein Treib­hausgedanke; wird doch sogar der Begriff der Rasse allmählich ein konventioneller und grenzenloser.

Aber den jüdischen Menschen als Spezialität, den gibt es, dank dem Christentum, dank der Kirche, dank der abendländischen Finsternis.

Aus dt» Tagr» der inquijitioti.

Samuel Rodriguez de Cordosa saß in seinem Arbeits- zimmer. Es war ein hoher vornehm ausgestatteter Raum, d?r Zeugnis davon ablegte, daß die Neigungen seines Bewohners von hoher ästhetischer Feinheit waren und daß seine Stellung es ihm gestattete, seinen Nei­gungen nachzugeben. Die glühende Mittagssonne fand hier nur schwer Eingang; in halbem Dämmerschein lag der Raum, in jener Stille und Ruhe, die man so un­gern zu stören wagt. In schweren Falten fielen die Vorhänge vor den weit offenen Türen herab. So, daß der Lärm des Tages nur dumpf und fern hereintönte. Das gab im Verein mit der großen Stille drinnen den Eindruck des Fernseins, des vollkommenen Allein.

Samuel Rodriguez de Cordosa wollte mit sich allein sein. Denn er stand vor einem Schritte, den er lieber nicht getan hätte und dem gegenüber er vor der letzten Entscheidung noch einmal ganz unbeeinflußt prüfen wollte, ob er auch wirklich getan werden mußte. In seinem ernsten Gesicht spiegelte sich der ganze Kampf, den er im Innern kämpfte, deutlich ab, und in seinen beweg­lichen ausdrucksvollen Zügen konnte man die Entwick­lung desselben genau verfolgen. Die dunklen Augen starrten unter den finster zusammengezogenen Brauen vor sich hin, die geballle Faust lag auf der reichge­schnitzten Lehne des Armstuhles. Die ganze Gestalt war wie in Erz gegossen und erweckte den Eindruck einer unverrückbaren Entschlossenheit, der aber durch einen merkwürdig weichen Zug, der um die Lippen lag, ge- mildert wurde.

Mit einer energischen Bewegung richtete er sich in die Höhe. Was geschehen mußte, sollte bald, so rasch als möglich geschehen. Man durfte von ihm nicht sagen, daß er der Mann der gewollten Tat sei. Er erhob sich und ging zu einem der Vorhänge. Er ergriff die her­

S Nehmen wir an, die Emanzipation stelle eine x Epoche vor; für die Armen, für das jüdische Prole­tariat, unter allem Proletariat daS elendeste und be­jammernswürdigste, war sie doch nur ein Wortschall. " Sie hat einen ganz bestimmten und nicht immer er- r freulichen Typus des Juden erschaffen. Man will in r einem Atemzug alles Gewesene abschütteln und sich mit . s Gegenwart füllen. Die Folge ist Rausch, Zerfahren­heit, Zerrissenheit. Es tauchen blendende Naturen auf, aber sie scheinen zugleich geblendet. Man schreit, wo * sprechen nützlicher wäre. Man wird durch Uebereisir e lästig. Die Siegerfreude läßt vergessen, daß man trotz b der errungenen Rechte nur gebulöet wird. Das ist zu tt wenig, Juden! Die einseitige Hinneigung zu geistigem Leben täuscht darüber hinweg, daß der Körper noch 7 nicht genug Sonnenlicht, die Seele noch nicht genug ' Ruhe gehabt hat. Die Kräfte erschöpfen sich. Die zu s schnell entfachte Flamme verzehrt sich zu schnell.

Und die Grimasse. In einem Teil der Juden

- herrscht noch der Geist des entlaufenen Sklaven. Man , möchte sagen: die Fesselzeichen sind noch sichtbar. Ein ' Dämon scheint ihr Wesen verwundet und vrrgiftet zu

haben; derselbe Dämon zwingt sie zu tun, was sie nicht sollten; sie wollen etwas scheinen, was sie nicht sind,

- und was zu sein sie sich garnicht bemühen, nämlich ) freie Menschen; dadurch wirken sie teils lächerlich, i teils aufreizend. Sie sind entweder anmaßend und t überhebend oder demütig und zur Selbstgeißelung ge­neigt, oder beides. Alle Vorzüge des Juden sind bei

' ihm zu Lastern geworden und diese Laster haben bei ihm etwas seltsam Penetrantes: der echte Jude ist feinfühlig und zurückhaltend, sie sind frech und auf­dringlich; der echte Jude ist stolz und schamhaft, sie ' sind knechtisch und schamlos. In ihnen ward Scharf­sinn zur Klügelei, Urteil zu Respektlosigkeit. Es sind : Schwächlinge, die sich stark stellen. Es sind diejenigen i Juden, die vor jedem Bild einesGermanen" in augenverdrehender Hochachtung erstarren. Unter ihnen trifft man die unversöhnlichsten Hasser des Judentums, i denn ihr Ehrgeiz treibt sie in eine Richtung, bei der i ihnen die Abstammung zum Hindernis wird. Durch sie leidet der wahre Jude unendlich, so wie man an einem Bruder leidet, der die öffentliche Verachtung herausfordert durch Handlungen, die er für musterhaft, durch ein Betragen, das er für bewundernswert hält. Sie sind der Abfall. Sie sind die Verräter am Geiste, an der Idee. Ihre Seele ist nicht gereinigt worden durch die Leiden der Ahnen, sondern beschmutzt. Sie sind am weitesten von der Geschichte, den Kämpfen, den Zukunstshoffnungen des Judentums entfernt, und doch formuliert gerade aus ihnen die Welt ihre Anti­pathie gegen das Judentum; sie sieht, sie weiß nicht- anderes vom Judentum. Es ist unabänderlich; nicht so sehr das Purpurkleid, als der Schmutzfleck darauf zieht die Augen der Menge auf sich.

Sich fremd unter Fremden im fremden Land zu fühlen, das hat der aufrichtige und seiner selbst ge­wisse Jude natürlich nie verlernt, denn mit Liebe ward ihm nichts gewährt. Einen Rechtstitel auf seinen Besitz konnte er, durfte er niemals überzeugend Nach­weisen. Um so inniger, heimlicher, verhaltener ist oft sein Verhältnis zu Land und Landschaft. Es hat Juden gegeben, die aus Scham über diese Liebe in einem Wahnsinn des Herzens zu Leugnern und Ver­rätern wurden. Ich glaube, Heinrich Heine hatte etwas davon. Es wird den Juden von vielen Seiten immer wieder zugerufen: vermischt euch! verschwindet

abhängende Schnur und schob die Falten auseinander. Darauf ging er zu seinem Platze zurück.

Bald darauf erschien der alte Diener des Hauses. Einer lieben Sitte treu war Domingo mit ihm gegangen, als er selbst das Vaterhaus verließ; er gehörte von da an seinem Hause mit an, und er hatte das Recht, die Schicksale des Hauses Rodriguez de Cordosa als seine eigenen Schicksale anzusehen.

Rufe meinen Sohn Diego."

Domingo verneigte sich tief und ging.

Wieder blieb Samuel Rodriguez allein zurück in dem dämmerschweren Raum mit der Last seiner Gedanken.

Gern hätte er dem Sohne erspart, was er ihm nun antun wollte. Aber hatte er nicht mit den ererbten Vorrechten seines Hauses auch dessen Pflichten geerbt? Und die Pflichten waren ihm lieb und so heilig wie die Rechte.

Ein Geräusch wie von raschen Schritten ließ ihn aufhorchen. Gespannt lauschte er dem leichten jungen Klang, der da zu ihm hinkam. Und als er den Sohn vor sich stehen sah, kam in sein Gesicht ein Ausdruck freudigen Stolzes.

Er wurde ganz zuversichtlich beim Anblick dieser sicheren Jugend. Und voll Freude erkannte er sich selbst in dem schlanken Jüngling wieder, der da vor ihm stand mit seinen stolzen herrischen Augen und dem jungen weichen Mund

Vor allem und vor allem, er war ein Cordosa!

Mit einer freundlichen Handbewegung forderte er den Sohn auf, niederzusitzen.

Ein paar Minuten vergingen, ohne daß einer von ihnen gesprochen hätte.

Samuel Rodriguez suchte in dem Gesicht des Sohnes zu lesen, um danach die Art seines Vorgehens zu richten. Was er aber vor sich sah, das schien ihm jeden Auf­schluß verweigern zu wollen; denn da war in dem Gesicht des jungen Menschen die anerzogene und gern

als Juden! vereinigt euch mit euren Wirtsvölkern! Aber wie stellen sich diese Leute daS vor? wie denken sie sich den Prozeß der Auflösung? Es geschieht oft genug, aber eigentlich werden nur die schlechten Elemente ausgenommen. Ein sogenannter Glaubens­wechsel ist doch unvermeidlich, sonst würde eS ja nichts helfen, und soll die neue Zukunft gleich mit Lüge und Heuchelet beginnen? Soll der edle Jude zuerst eine unerhörte Demütigung erleiden, um äußerlich frei zu werden und gesellschaftlich makellos zu scheinen? Der geschundene Esel wird nicht geheilt, indem man ihm Ohren und Schwanz aus Papiermaches anheftet, er wird nur noch lächerlich dazu.

Und also lebt der Jude in eigentümlicher Verein­zelung. Nicht so sehr ein Einsamer ist er, als ein Einzelner. Der Kosmopolitismus des modernen Juden ist ein Resutat dieser Vereinzelung, seine leiden­schaftliche Hingebung an die Familie ein Schutzmittel dagegen. Ec sucht Halt und Haltung in allen Be­zirken des geistigen Lebens und der Kunst. Die stets vibrierenden Sinne sind fruchtbar im Erfassen und Erkennen alles Neuen, Großen. Herolds- und Ver­kündigungsdienst ist seine schönste Form des Selbst- vergessens. Sich über einen großen Gegenstand zu vergessen, darin sucht er seine Würde und seinen Ruhm.

Wie seltsam ist die Rolle, die viele junge Juden von heute dem Christentum gegenüber spielen. Haben sich die Seelen vertieft? Aus der oberflächlichen Frei­geisterei von einst ist ein brünstiger Mystizismus ge­worden. Doch den wunderlichen Charakter des geistig Vogelfreien, Losgelösten, Jrrwischhaften haben diese Bewegungen nicht verloren. Es liegt ihnen ein ver­hängnisvoller Mangel an Produktivität zu Grunde. Es ist keine höhere Uebereinkunft der Geister, kein Wille zur plastischen Gestaltung des Lebens; allem Sein, Tun und Wollen fehlt das mutige Ja, und wenn sie sich noch so glühend an Christus klammern, sie gewinnen Christus nicht, sie verlieren nur sich selbst. Sie mißverstehen sich. Der Drang nach Erlösung und Erlösenwollen liegt ihnen freilich im Blute. Der Jude bedarf stets der Erlösung: vom Leibe, vom Geiste, von der Erde, von der Wirklichkeit, von den Träumen. Er kennt das Ansichselbstleiden besser als andere; die intensivsten Aeußerungen seiner Kraft entspringen dem Kampf mit der eigenen Natur. Ec ist ein Gefäß der Widersprüche, unvermögend, die Gegenwart freudig zu erfassen, die vollkommene Dunkelheit fürchtend, das vollkommene Licht scheuend, ein Dämmerungswesen aus dem Dämmerungsland, das zwischen Morgenland und Abendland liegt. Ec ist wie gemacht, um am äußersten Ende eines Zeitalters,zu stehen, auf der Schwelle zweier Welten, aus der einen hinausgeftoßen und noch nicht fähig, in die andere zu gelangen. Er ist der geborene Pfadsucher. Er liebt leidenschaftlich das Leben, von dem er jeden Tag als volles Glücksmaß fordert, und doch vermag er das Glück nur hypochon­drisch bangend zu genießen. Sein auf alle Wandlungen vorbereiteter Geist sieht beständig auf allen Seiten alle Möglichkeiten des Verderbens.

(Das, was hier im letzten Absatz ausgeführt wird, scheint uns Uebertreibung. Das hier entworfene Bild vom Juden trifft nicht im entferntesten das Spezifische und Typische in ihm. Es kann höchstens auf einzelne Exemplare von Zerfahrenen, Zerrissenen, Doppelbe­seelten Bezug haben, die infolge einer widersinnigen Erziehung den inneren Halt verloren haben. Schließlich

gewährte Ehrfurcht vor dem Vater, sonst aber nur dieselbe vollkommene Verschlossenheit, die Samuel Rodriguez so genau von sich selbst kannte.

Es galt also, vorsichtig zu sein!

Ich möchte erfahren, wie weit deine Studien auf der hohen Schule dich bis jetzt gebracht haben?"

Das dunkle Gesicht Diegos war bleich geworden, und seine Augen bekamen einen fernen kalten Ausdruck.

Ich meine, was dir besonderes Interesse einflößt, das möchte ich wohl wissen?"

Die Stimme Samuel Rodriguez' hatte einen zwang­los kameradschaftlichen Klang.

Ich treibe die Studien, die mein Vater mir vor­geschrieben hat."

O, aber vielleicht ist da etwas, was meinen Sohn noch stärker fesselt, als das, was ich ihm bestimmte?"

Nichts mein Vater."

Und wie steht es mit der Übersetzung des Samuel ibn Adija?"

Meine Lehrer sind zufrieden!"

Was treibt mein Sohn in seinen Mußestunden?"

Samuel Rodriguez tat, als sähe er die Glutwelle, die das Gesicht des Jünglings überflutete, nicht.

Hast du die kleine Vtolante eingeritten?"

Ein erleichterter Blick traf den Vater.

Sie geht ganz gehorsam."

Wohin rettest du?"

Weit hinaus bis an die Mauern von San Jago de Compostella. Über die Wiesen mit dem hohen Gras, durch den Wald, an den Bächen vorüber und allen kleinen Waldquellen. Oft will Biolante gar nicht weiter, wenn es so schön ist," er sprach eifrig, in der Hoffnung, daß die Unterredung nun bald zu Ende sein würde und daß seine Furcht wieder einmal grundlos gewesen sei.

Und wie geht es der kleiNLst Au prdin" Samuel Rodriguez sprach ganz'gsbürg Nabunahids!-. den Unter- Ion eines stärkeren Inte (Fort,., wie hieß