3. Januar 1907.

.-sv

semitischen Einfluß in allen seinen Schattierungen nach Möglichkeit als wirkenden Faktor unserer innerpolitischen Verhältniffe auszuschalten oder doch wesentlich zu schwächen.

SeleUMmMlcher

flnUfcmitismus.

In einem von Herrn Adolf Stöcker Unter­zeichneten, vor kurzem erschienenen Artikel der Staatsbürgerztg.", rühmt er sich des Sieges, den die von ihm geleitete christlich-soziale Agitation, wenigstens in der Gesellschaft und in den Parla­menten über den jüdischen Einfluß errungen habe. Der Kampf hat, wie er selbst zugiebt, nicht zum Siege geführt,in der Presse und Kunst, nicht im Handel und an der Börse", d. h. da nicht, wo es auf Können und Leisten ankommt, Wohl aber da, wo man mit vagen Ausstreuungen, Vorurteilen, Hetzreden die Gesellschaft und die großen Massen beeinflussen kann. Ob der Sieg, dessen er sich über den jüdischen Einfluß in den Parlamenten rühmt, und der nach seinen eigenen Worten darin besteht, daß im Reichstag nur bei der Sozialdemokratie jüdische Mitglieder sind, nicht nur ein Pyrrhussieg ist? Vielleicht sind nur deshalb so viele jüdische Mitglieder bei der Sozialdemokratie, weil gar mancher verärgert durch die Stöckersche Agitation zu ihr getrieben worden ist?

Indessen möchten wir uns hier nur mit dem gesellschaftlichen Antisemitismus beschäftigen, dessen Förderung er sich als Sieg anrechnet. Was heißtGesellschaftlicher Antisemitismus" ? Es heißt, die Gesellschaft,, die hier ja nicht bloß alsdie Gesellschaft" im engeren Sinne, sondern als die die weiteren bürgerlichen Schichten umfassende zu be­trachten ist, ist nach dem Satze:Steter Tropfen hält den Stein" dahin bearbeitet und schließlich gebracht worden, daß sie sich möglichst von Juden fernhält, diese bei jeder Gelegenheit schneidet, zurück­stößt und zwar ohne jede Rücksicht auf deren Würdigkeit und Tüchtigkeit. Daß das gerecht, human, in einem der Einigkeit besonders bedürftigen Reiche, dessen Bevölkerung nach völkischer Ab­stammung,'' durch konfessionelle Spaltung, geschicht­liche Entwickelung usw. sehr zersplittert ist, für das politische Gedeihen besonders nützlich sein sollte, cden wenige Unbefangene zugeben. Aber eine ffblche willkürliche Boykottierung hat auch auf die Charakterentwinelung der Boykottierenden und auch noch vieler anderen, obwohl sie zu den Nicht- boykottierten gehören, eine ganz eigenartige, weder dem Germanentum noch was den Herrn Pastor besonders bedenklich erscheinen müßte dem' Christentum sonderlich zur Ehre gereichende, im höchsten Grade unschöne Wirkung.

Diese Wirkung sei hier nur durch einige an sich verhältnismäßig harmlose Geschichtchen illustriert.

Eine christliche Dame, die unzweifelhaft christlich und germanisch ist, die es liebt, reicher zu scheinen, als sie ist, und darum gern, wenn sie reist, auf alle mögliche Weise versucht, mit ihrem Billet einer niedrigeren Fahrklasse sich in eine höhere einzu­schmuggeln, nimmt während der Fahrt trotz ihres

BilletS dritter Klaffe was ja in den durch­gehenden Wagen sehr leicht geschehen kann in einem Abteil erster Kläffe Platz, in welchem zwei feine Jüdinnen" wir brauchen diese uns un­sympathische Bezeichnung der historischen Treue wegen nach dem Bericht der christlichen Dame - sich befittden. Die beiden Jüdinnen, die nach den in letzter Zeit vorgekommenen Eisenbahnüberfällen auch einen Ueberfall befürchten mochten, sahen die so plötzlich hinzugekommene Dame, die sich gar nicht wieder entfernen zu wollen schien, wiederholt be­fremdet an, worauf dem Eindringling die geflügelten Worte entfahren:Was sehen Sie mich denn so an? Chuzpe!" Das letzteUnverschämtheit" be­deutende Wort sollte die Jüdinnen gewissermaßen niederschmettern, ihnen sagen, daß sie als Jüdinnen erkannt seien und darum ganz ruhig sein sollten. Das Pikanteste aber ist, daß die christliche Dame den ganzen Vorfall einem ihr bekannten Juden, dem Schreiber dieser Zeilen, erzählte, ohne auch nur einen Augenblick daran zu denken, daß dieser die Chuzpe" ganz auf ihrer Seite finden könnte. Dieses den beidenfeinen" Jüdinnen und mir gegenüber gezeigte abgestumpfte Gefühl bei einer sonst intelligenten und durchaus nichtantisemitischen Frau ist nur möglich in einem Lande, in welchem der gesellschaftliche Antisemitismus gepflegt wird. Und was, Herr Pastor, denken Sie wohl, daß der Schreiber dieser Zeilen auf die Erzählung erwidert hat? Nicht ein einziges Wort. Er lächelte selbst nur innerlich und dachte: o simplieitas! (Einfalt). Das sancta (heilig) konnte er nicht übers Herz bringen.

Nun ein zweites Geschichtchen.

Die Frau eines jüdischen Arztes erzählt einer christlichen Bekannten, gleichfalls Frau eines Arztes, in Gegenwart ihrer zwanzigjährigen Tochter etwas und erwähnt in der Erzählung einer Entbindung. Nachdem das zwanzigjährige Fräulein enfernt war, macht die christliche Frau der Jüdin Vorwürfe, daß sie in Gegenwart eines jungen Mädchens von einer Entbindung spreche. Die Jüdin erwidert, dabei sei doch absolut nichts. Selbst bevor man auch nur auf den Gedanken gekommen sei, daß man die Kinder über geschlechtliche Dinge vorsichtig auf­zuklären habe, habe man in durchaus anständigen Familien, besonders in Gegenwart erwachsener Mädchen von zwanzig Jahren das Wort Entbindung zu erwähnen keinen Anstand genommen. Worauf dem Gehege der Zähne der Christin die geflügelten Worte entfahren:In unseren germanischen Kreisen weht eine reinere Luft". u

Die Jüdin war wie niedergeschmettert. Nicht sowohl wegen dieser Worte an sich, sondern weil ihr ebenso wie dem Schreiber dieser Zeilen die Vergangenheit" der Christin bekannt ist. Sie, Herr Pastor Stöcker, hätten ihr zum Beispiel zur Trauung nicht den Myrtenkranz gestattet. Sie lebte außerdem über ein Jahrzehnt in wilder Ehe, und dem jüdischen Gatten der hier in Rede stehen­den Jüdin sowie einem anderen jüdischen Freunde des wilden Ehemannes und zum nicht geringen Teile dem Einflüsse der Wenigkeit des Schreibers dieser Zeilen ist es nicht ohne große Mühe, da allerlei Schwierigkeiten im Wege standen, gelungen, durchzusetzen, daß die wilde Ehe der Frau, in deren germanischen Kreisen die reinere Luft weht, legali­siert und die Kinder legitimiert wurden. Ich selbst

Kein ütaum.*)

Aus dem modern st en Studententum.

Von Dr. B. Str., Hannover.

Auf dem Traktandum der Studentenversammlung einer bekannten Universitäts- und Residenzstadt stand:Bildung eines Studentenverbandes unter Ausschluß der konfessionellen Korporationen." Es war ein offenes Geheimnis, daß sich die Spitze der neuerlichen, durch die ganze deutsche Studentenschaft gehenden Bewegung gegen die katholischen Studenten­verbindungen richtete. Die K.-C.-Verbindung **) an der fraglichen Universität schwankte anfangs, ob sie die Versammlung besuchen solle, da ihre Zu­sammensetzung doch auch eine rein konfessionelle sei. Der B. C. (Burschenconvent) hatte dann aber nach längerer Debatte die Beteiligung ^beschlossen und dies mit der Maßgabe, daß die K. C.-Verbindungen wohl spezifisch jüdische sein, doch nur in notwendiger Abwehrbewegung gegen den Antisemitismus in der Studentenschaft. Außerdem könne es notwendig sein, tendenziösen Entstellungen auf der Versamm­lung entgegenzutreten.

So zogen denn am festgesetzten Tage die Mit­glieder dieser jüdischen Verbindung in Couleur dem

*) Wir brachten in voriger Nummer an dieser Stelle eine Skizze aus dem modernen Studentenleben. Die dort geschilderten Verhältnisse werden durch diesen uns von berufener Seite, die die Verhältniffe genau kennt, zugehenden Aufsatz, dessen Tatsachen der Wirklichkeit entnommen sind, in wesentlich freundlicherem Lichte gezeigt. Red.

**) K. C.'Kartell-Convent. Solche jüd. K. C.-Verbin- dungen gibt es jetzt in Breslau, Berlin, München, Freiburg, Heidelberg. Bonn, Darmstadt. Sie bestehen nur aus Juden, tragen größtenteils Couleur, geben unbedingte Satisfaktion. Die Viadrina in Breslau ist die älteste und wurde vor mehr als 20 Jahren gegründet.

Versammlungslokal entgegen. Wer diese jungen Menschen als Muli nach dem Abgang vor der Schule gesehen hätte, wäre erstaunt über ihre Ver­wandlung und Entwicklung gewesen. Unter ihnen war keinbleicher junger Mann mit schwermütigen Augen" mehr. Das waren selbstbewußte Juden mit freiem Blick. Neue sana in corpore sano. Einige dieser jüdischen Studenten trugen Narben, Zeichen ehrenvoller Mensuren. Diese Mensuren hatten den Vorwurfder jüdischen Feigheit" schlagend widerlegt. Im Versammlungslokal war schon der größte Teil der Korporation anwesend. S. C., D. C., V. C., L. C., alle diese Verbände saßen rauchend, trinkend und lebhaft debattierend an langen Tischen ungezwungen zusammen. Ein Teil solch eines Tisches war für die jüdische Verbindung in der Nähe der Rednertribüne reserviert. Beim Durchschreiten des Saales wurde der Gruß der K. C.er freundlich von verschiedenen Verbindungen erwidert, mit denen sie im Pankverhältnis auf leichte oder schwere Waffen standen. Heiße und schwere Kämpfe hatte es gekostet, bis ein Student mit so­genanntem jüdischen Extrieur sich ohne Verhöhnung in Couleur öffentlich blicken lassen konnte; bis die K. C.-Verbindungen als gleichberechtigte Korpora­tionen anerkannt wurden. Jetzt aber können die Angehörigen des K. C's. als geachtete und meist wohlgelittene akademische Bürger ihre Studentenzeit im Kreise Gleichgesinnter verleben. Wohl ist bis zum Ziel der gänzlichen Unterdrückung des Anti­semitismus in Studentenkreisen noch ein langer Weg, doch wird auch dieses erreicht werden. In­zwischen aber ist es für jeden K. C.'er ein erheben­des Bewußtsein, zur Erreichung dieses Zieles bei­zutragen. Die Versammlung nahm einen sehr leb­haften Verlauf und führte zur Gründung eines

war Zeuge bei dem standesamtlichen Akte. Was glauben Sie wohl, Herr Pastor, baß ich über die reinere Luft in den germanischen Kreisen dachte? Da die betreffende Christin, die im Uebrigen eine tüchtige und besorgte Gattin und Mutter ist, nicht zugegen war, erlaubte ich mir furchtbar zu lachen. Der Ausspruch von derreineren Lust" aus solchem unberufenen Munde wäre gewiß nicht möglich ge­wesen, wenn nicht der gesellschaftliche Antisemitismus, auf den 'sich Herr Stöcker so viel zugute tut, die christliche Bevölkerung, selbst wenn sie nicht schon antisemitisch durchfressen ist die hier in Rede' stehende Christin ist nicht eine Spur antisemitisch Juden gegenüber sich so manches zu gestatt en ge­wöhnt hätte, genau so wie die russische Leibeigen­schaft und die Sklaverei in den Bereinigten Staaten selbst bei sehr gebildeten Russinnen und Ameri­kanerinnen die Gewohnheit erzeugt, hätte, den Leib­eigenen und Negern gegenüber jedwelches Scham­gefühl' abzulegen.

Wenden wir uns jetzt aber Männern zu und höheren Gesellschaftsstufen.

Es war einmal. So muß man nämlich an­fangen, nicht weil das Geschichtchen, das jetzt hier erzählt sei, ein Märchen ist, sondern weil der An­fang der Geschichte einige Jahrzehnte zurückliegt. Also es war einmal ein christlich-germanischer Jüngling, der zu einem jüdischen Bankier in die Lehre ging. Es war dies zu einer Zeit-« als Herr Stöcker es noch nicht mit seiner christlichen und priesterlichen Pflicht vereinigt hatte, den gesellschaft­lichen Antisemitismus zu Predigern Jener Jüng­ling war ein und ein Vierteljahr in dem Geschäft bei dem jüdischen Bankier und in- diesen fünf Vierteljahren gelang es ihm, fünftausend Taler es war noch vor der neuen Reichswährung zu unterschlagen. Der Bankier, der nicht durch eine Anzeige die Laufbahn eines jungen Menschen aus anständiger Familie zerstören wollte, begnügte sich, ihn zu entlassen, nachdem er sich einen Schein hatte ausstellen lassen, in welchem der junge Mann seine Unterschlagung eingesteht und sich zur Zurück­zahlung des unterschlagenen Geldes verpflichtet. Jahre vergingen. Der junge Mensch hatte sich der militärischen Laufbahn zugewendet und hatte großen Erfolg. Er stieg von Stufe zu Stufe, und als er starb, hatte er nur noch zwei Sprossen zu er­klimmen, um auf der höchsten sich zu befinden. Der jüdische Bankier begegnete öfter dem bereits hohen Offizier und forderte ihn auf, den bedenklichen Schein einzulösen. Unter allerlei Ausflüchten wurde dies immer abgelehnt, und als der Bankier ihn warnte, daß er, der Bankier, ja sterben und die Erben nicht so nachsichtig sein könnten, antwortete der Offizier:Sie sind so gesund und werden am Ende noch länger leben als ich." Wie aber das Schicksal es manchmal so will, starb der Bankier wirklich ziemlich plötzlich nach ganz kurzem Kranken­lager. Der älteste Erbe, ein Schwiegersohn des Verstorbenen, übernahm die Regulierung des Nach­lasses und mußte nun im Interesse der übrigen Erben auch für die Einlösung des Scheines Sorge tragen. Er wie die übrigen Erben hatten zum erstenmal von der heiklen Angelegenheit Kenntnis erhalten. Er begab sich zu dem hohen Offizier, verhandelte lange mit diesem und es kam zu einem Vergleich, nach welchem der Offizier die betreffende Summe ohne Zinsberechnung in monatlichen Raten

Studentenverbandes unter Ausschluß der katholischen Verbindungen. Der Wortführer unserer jüdischen Verbindung brauchte nur einmal zur Stellung eines Gegenantrages das Wort zu erbitten. Von einem alldeutschen, antisemitischen Verein war der Antrag gestellt, auch die jüdisch-konfessionellen Ver­bindungen von der Beteiligung am Studentenver- bande auszuschließen. Der Gegenantrag, vom ersten Chargierten der K. C.-Verbindung vorgebracht und kurz motiviert, ging dahin, über diesen Antrag ohne Debatte zur Tagesordnung überzugehen, was auch mit großer Stimmenmehrheit beschlossen würfle. Es war eben unter den christlichen Korporationen genügend bekannt, daß der K. C. nur notgedrungen und in Abwehrbewegung besteht. Deshalb ließ diese ganze gegen die konfestonellen Verbindungen gerichtete Strömung die K. C.-Korporationen fast unberührt. Nach Schluß der Versammlung ver­blieben die Angehörigen des neugegründeten Stu­dentenverbandes noch zusammen, um mit einem gemütlichen Glase Bier die neue Institution zu begießen". Die Gegensätze zwischen den einzelnen teilnehmenden Corps, Verbindungen und Vereinen schienen gar bald nicht mehr zu existieren. Gemein­schaftlich gesungene fröhliche Studentenlieder und gegenseitiges Anprosten ließen bald eine behagliche Stimmung des Einigseins und Zusammenaehören in Fragen von studentischem Allgemeininteresse auf- kommen. Und so verlebte man einige angenehme Stunden miteinander, in denen der allgemeine Burgfriede" nicht proklamiert zu werden brauchte.

Nach dem allgemeinen Aufbruch gab es jedoc noch eine Contrahage zwischen einem K. C^er " einem Angehörigen des oben erwähnten tischen Vereins. Der Brandfuchs Cohn hc durch ein Gespräch mit einem früheren Mi