XVI. Jahrgang / Nr. 4 Berlin, 28. Januar 1937

Preis 10 Pfennig

ALLGEMEINE ZEITUNG DES JUDENTUNS

Geschäftsstelle (Verlag Schnftleitung, Anzeigenannahme, Vertriebsabteilung): Berlin W15, Emser Strasse 42. Fernsprecher: J 2 OUra 814145. Telegrammadresse: Oentralglanben, Berlin. Postscheckkonto: Berlin 70344. Die O.-V.-Zeitnng erscheint wöchentlich am Donnerstag. Redaktionsschluß: Dienstag:. Bestellungen nimmt jedes Postamt und die Geschäftsstelle entgegen. Znstellung erfolgt durch die Post, die die Gebühren durch den Post­boten erhebt. Bezugspreis vierteljahrlich 81 Rpf/(einschl. 22,74 Rpf. Postzeitungsgebühr) zuzügl. 18Rpf. Bestellgeld. Für Ausland vierteljährlich 2,30 RM(umgerechnet in die Landeswährung) einschl. Zustellgebühren. Einzel­nummer 10 Rpf. (Ausland 20 Rpf.) Im Falte höherer Gewalt besteht kein Anspruch auf Nachlieferung oder Rückvergütung der gezahlten Beträge. Anzeigengebühren: Preisliste 5 gültig. Die 12gespaltene mm-Zeile 20 Rpf., für bteilengesuche 10 Rpf., für Familienanzeigen 16 Rpf., weitere ermässigte Grundpreise s. Preisliste. Einzelanzeigen nur gegen Vorauszahlung. Anzeigenschluss: Dienstag. Platz- u. Datenvorschriften ohne Verbindlichkeit.

m

Wanderungsdebatten

in der englischen Welt

Im Unterhaus

Am 26. Januar fand im englischen Unterhaus eine Debatte über Siedlungs­fragen im British Empire statt. Dabei wurde ein Gesetzentwurf in zweiter Lesung er­örtert, durch den die Regierung ermächtigt wird, in den nächsten fünfzehn Jahren ihre Ausgaben für gewisse Siedlungszwecke zu erhöhen, dagegen die für die Unterstützung der Auswanderung zur Verfügung stehende Gesamtsumme von 3 Millionen Pfund auf 1,5 Millionen Pfund herabzusetzen. Der englische Dominienminister Malcolm MacDonald äusserte, er könne nicht viel Hoffnung erwecken, dass die Domi­nien in nächster Zeit bereit sein würden, viele britische Auswanderer aufzunehmen. Im Verlauf der Aussprache kam es dann zur Erörterung von Problemen, die für uns Juden von beträchtlichem Interesse sind. Der Abgeordnete der Labour Party Sir Robert Young unterstrich die Schwie­rigkeiten, die für das britische Reich durch eine fortdauernde verstärkte jüdische Ein­wanderung nach Palästina zu befürchten seien, und regte an, einen Teil des jüdischen Einw ander er Stroms in die Dominien z u lenken. Im einzelnen führte er aus:

Bei dem Wanderungsproblem gebe es eine Reihe industrieller und wirtschaft­licher Faktoren, die nicht leicht zu be­handeln seien. Trotzdem müsse er sich manchmal darüber wundern, dass ein Wanderungsproblem überhaupt vorhanden ist und dass die unbevölkerten Gebiete des Reiches nicht so schnell aufgefüllt wor­den sind, wie dies seinerzeit in Amerika der Fall war. Der Grund hierfür sei keines­wegs darin zu sehen, dass es an Mensehen hierzu fehlt. Es gibt viele Tausende, sagte er, die aus Deutschland, Polen, Russland und anderen Ländern ausgewandert sind und sich gerne in einem Land innerhalb des Britischen Reiches niederlassen wür­den, um dort ein Leben in Freiheit und in dem Genuss aller''Bürgerrechte zu führen. Warum wird nicht ein Teil der Mittel der mit Auswandererfürsorge befassten Stellen dazu benutzt, die Ausgewanderten dort an­zusiedeln? Die Juden z.B. könnten Heim­stätten für ihre Glaubensgenossen etwa in Australien finden.

Der Redner gab seiner vollen Sympathie für die Juden Ausdruck, die in verschiede­nen Teilen der Welt in Not geraten seien. Aber im Hinblick auf die Ereignisse in Palästina, auf die Unruhe, die vermutlich nicht leicht werde beschwichtigt werden können, in naher Zukunft vielleicht wieder

In dieser 20seitigen Nummer finden unsere Leser u.a.: Die Aufsätze:

C.-V.-Wegweiser durch Berlin. Von Heinz Berggrün. Knut Hamsuns neuester Ro­man. Von Julius Bab. WerfeisWeg der Verheissung". Von unserem New- Yorker St. - Berichterstatter. Aus der Praxis des Reichsfluchtsteuerrechrs. Von Dr. Werner Gallewski. " Die Beilagen:

Buch und Kunst. Kinderblatt. Sport­blatt. Palästina-Umschau. Wirtschaft der Woche. Schachecke.

aufflammen werde und auf die anderen politischen Wirren in vielen Teilen des britischen Reiches und in anderen Teilen der Welt müsse man fragen, warum nicht das jüdische Volk einen grossen Teil seines Reichtums benutzen sollte, um neue Heim­stätten für seine Glaubensgenossen in Australien zu finden. Es sei sicher, dass sie dort ebenso glücklieh, zufrieden und erfolgreich sein würden, wie in anderen Teilen der Welt.

Ein anderer Abgeordneter der Labour Party, F. J. B e 11 e n g e r, bezeichnete die­sen Ausführungen gegenüber Palästina als Vorbild für das übrige britische Reich. . Haben die Mitglieder des Hauses, so fragte er, bei der Behandlung dieses Problems über Palästina nachgedacht? Das Land war völlig entvölkert, jedenfalls gab es sehr wenige Juden dort. Dadurch aber, dass Palästina infolge der Balfour-Deklara- tion zu einer neuen Heimat für die Juden geworden ist, kam es in den letzten Jahren" zur Blüte. Palästina hat anscheinend dieses Problem in weit wirksamerer Weise gelöst, als es für die Lösung der Reichsprobleme hier vorgeschlagen wird.

: Aus dem Verlauf der Debatte ging im übrigen hervor, dass Queensland und Süd­australien bereit sind, Einwanderer be­stimmter Arbeiterkategorien in beschränk­ter Zähl aufzunehmen. Nach Auffassung desManchester Guardian" kommt das im Parlament beratene Reichs­siedlungsgesetz überhaupt erst für eine vorläufig noch ungewisse Zukunft in Be­tracht. Praktische Bedeutung werde es erst erlangen, sobald die Dominien sich bereiterkiären würden, einer mit Reichs­unterstützung durchgeführten Wanderung zuzustimmen. Kanada und Neuseeland seien bisher hierzu nicht bereit.

Eine Rede des Generals Smuts

. Eine starke- innere Verwandtschaft mit gewissen in London vertretenen Anschau­ungen wies die Rede auf, die der frühere südafrikanische Ministerpräsident und am­tierende Justizminister General Smuts bei einer grossen Kundgebung am 25. Januar in Kapstadt gehalten hat. Er trat den Be­strebungen, weiteren Zuzug von Europäern vom Lande fernzuhalten, entgegen und be­tonte die Notwendigkeit, die Z a h 1 der europäischen Bevölkerung zu vergrössern und die Tore Süd­afrikas für eine grosszügige; Einwanderung offenzuhalten. Südafrika werde in den nächsten zehn bis : fünfzehn Jahren nicht nur innerhalb des Britischen Reiches eine erhöhte Bedeutung erlangen, sondern auch im gesamten Welt- gefüge eine wesentlich wichtigere Stellung; einnehmen als heute. Es sei vorauszusehen, dass das Land eine Stufe der Entwicklung erlangen. wird, die sich heute nur die wenigsten träumen lassen. Die künftige Einwanderungspolitik, durch die dieser Aufschwung herbeigeführt werden soll, müsse so beschaffen sein, dass das beste Mensehenmaterial für die Einwanderung ausgewählt wird. Wenn die Zahl der Euro­päer durch den Zuzug solcher Elemente entsprechend erhöht wird, dann werde den Erfordernissen des Landes genüge getan werden können.

In der massgebenden Presse Südafrikas haben diese Aeusserungen des Justizmini­

sters lebhafte Zustimmung gefunden. Die Cape Times" weist darauf hin, dass die durch das neue Einwanderungsgesetz vor­gesehene Beschränkung der Einwanderung auf die geeigneten Elemente nur eine, und zwar die negative Seite des Einwande­rungsproblems löse. Es handele sich vor allem darum, im Hinblick auf die zu erwar­tende Entwicklung des Landes den Gesamt­umfang der Einwanderung zu vergrössern. Der durch den Aufschwung des Landes be­dingte Zustrom von Einwanderern allein reiche nicht aus. Man müsse sich fragen, ob in fünfzig Jahren eine europäische Be­völkerung von sogar 4 Millionen zur Be­wältigung der Aufgaben ausreichen würde, die sich bei der gewaltigen Entwicklung Südafrikas ergeben werden.

Auch in dem grössten Teil der übrigen Blätter Südafrikas wird das Prinzip einer strengen, aber objektiven Auslese des Ein- wanderungsmaterials, wie dies in dem am Mittwoch voraussichtlich Gesetz werdenden Entwurf vorgesehen ist, als eine für die künftige Entwicklung Südafrikas wesent­liche Regelung begrüsst, *

Die starke jüdische Aufklärungsarbeit in der Welt, insbesondere auch von nicht­

zionistischen Kreisen, darüber, dass die Juden aus ideologischen Gründen nicht etwa ausschliesslich nach Palästina wollen, sondern jede neue Existenzmöglichkeit begrüssen, wo sie mit ihrer Ehre und ihrer Würde in Einklang zu bringen ist, hat gerade in der letzten Zeit, wie die eng­lische Unterhausdebatte und auch die Rede des Generals Smuts, die wir neben­stehend wiedergeben, erkennen lassen, be­gonnen, ihre Früchte zu tragen. Es wäre vermessener Optimismus zu meinen, dass durch diese Reden die Fragen ihrer Lösung auch nur in begrenztem Ausmass nähergebracht worden seien. Aber es be­deutet gegenüber früher doch schon einen begrüssenswerten Fortschritt, wenn sie iu voller Oeffentlichkeit und Klarheit an den Stellen erkannjÄÄden, die auch in der Lage sind, o^^^H|lich und praktisch aus den ErkenJBBBR die Konsequenzen zu ziehen. Die juarsche Aufgabe in dieser Situation kann nur darin bestehen, jene Kreise nicht durch Auseinandersetzungen innerjüdischer Art zu verwirren und zum anderen auf die Schulung und Vorberei­tung der zur Auswanderung drängenden Massen ein HÖchstmass an Arbeit zu ver­wenden, damit sich um die neuen jüdi­schen Zentren nicht neue Spannungen bil­den; durch eine von vornherein überlegte planmässige Ansetzung jüdischer Men­schen soll der Beweis geführt werden, dass Spannungen nicht im jüdischen Menschen, vielmehr in den Verhältnissen ihre Ursache haben, in denen diese zu leben gezwungen sind.

Am Rande des; Problems

In diesen Wochen, in denen die Spann­kraft der Juden an vielen Orten der Welt auf eine harte Zerreissprobe gestellt ist, in denen überall in drängender Sorge um Lösungen gerungen wird, lenkt zum zwei­ten Male ein Schauspiel die Augen der jüdischen Welt auf sich, in dem sich alle Lebensangst und zugleich auch alle mes- sianische Sehnsucht einer von den Nöten dieses Daseins geplagten Judenheit zu­sammenballt, und das dennoch vor allem grotesk verzerrende Züge zeigt.

Jener polnische Advokat Wilhelm Ryp- pel. der schon einmal mit dem phantasti­schen Projekt einesErlösungsmarsches" von Warschau quer durch die Länder Ost- und Südeuropas nach Palästina von sich reden machte, hat sieh mit seinen wohl vor allem jugendlichen Leidensgenossen noch einmal auf den Weg gemacht. Wieder ist er, wie schon bei seinem ersten Ver­such, gescheitert, als er einige Dutzend' Kilometer von seinem Warschauer Start­platz entfernt auf polnische Polizisten traf. Ein Unternehmen, das, wie vielleicht die jüdischen Wanderungen zu Zeiten eines Schabbatai Zwi, die Augen der ganzen Welt auf die ins Masslose gewachsene, tra­gische Not der Juden Osteuropas lenken sollte, hat damit ein wenig lächerlich und ein wenig beschämend, wenn auch nicht ganz so theatralisch wie die historischen Wanderungen zu den falschen Messiassen, geendet. *

Es ist nicht ohne Reiz, sich zu vergegen­wärtigen, welche Gedankengänge Ryppel und seine Freunde zu ihrer Unternehmung veranlasst haben mögen. Sie haben ge­sehen, wie die jüdische Not brennend wurde, wie Komitees, Konferenzen, Orga* nisationen und hin und wieder sogar am­tierende Minister sich um sie bemühten, ohne doch die Dinge wirklich zu ver­

ändern. Sie haben Versprechungen und Proklamationen gehört, sie haben Pläne und Projekte entstehen und zu Akten­bündeln anwachsen sehen, sie haben diese, und sie haben jene jüdisch-politische Kon­stellation hoffend und zitternd durchlebt aber in der Welt der Wirklichkeit bewegte und veränderte sich wenigstens für sie kaum etwas. Es ist wohl begreiflich, dass sie dieses Getriebe einer Scheinwelt mit einer naiv-deutlichen, wenn auch offen­bar ganz zwecklosen Geste zu übertrumpfen gedachten, um die Gemüter und die Ge­wissen zu wecken, die sich in dem sicheren Bewusstsein eines gut organisierten Komi­tees beruhigt hatten.

*

Vor einer Woche hatten wir Nachrichten aus dem Pariser Kolonialministerium ver­zeichnet, die offenbar das Ergebnis von Bemühungen zweier territorialistiseher Or­ganisationen waren und die, weil sie auf Aeusserungen des Ministers M outet selbst zurückgingen, realerer zu sein schienen. Es drangen auch von. einer Warschauer Pressekonferenz her Aeusserungen führen­der Mitglieder der bekannten territoria- listisohen LigaFreiland" in die jüdische Oeffentlichkeit, wonach diese sich mit sta­tistischem und wissenschaftlichem Material an systematische Vorarbeiten gemacht hat, um die Grundlage für Erklärungen, wie eben die des französischen Kolonial­ministers, zu schaffen. Auch einen Appell der Vereinigung für Auswandererfürsorge Emcol" in London glaubte man in der Richtung ideologieferner, nüchterner Lö­sungsvorschläge deuten zu dürfen. Dann aber kamen von dem Kolonial-Unterstaats- sekretär Bouteille Erläuterungen und Ein­zelheiten zu den französischen Siedelungs- plänen: es werde im Jahre 1937 kaum möglich sein, mehr, als 10 jüdische Familien

*