XVI. Jahrgang / Nr. 4 Berlin, 28. Januar 1937
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ALLGEMEINE ZEITUNG DES JUDENTUNS
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Wanderungsdebatten
in der englischen Welt
Im Unterhaus
Am 26. Januar fand im englischen Unterhaus eine Debatte über Siedlungsfragen im British Empire statt. Dabei wurde ein Gesetzentwurf in zweiter Lesung erörtert, durch den die Regierung ermächtigt wird, in den nächsten fünfzehn Jahren ihre Ausgaben für gewisse Siedlungszwecke zu erhöhen, dagegen die für die Unterstützung der Auswanderung zur Verfügung stehende Gesamtsumme von 3 Millionen Pfund auf 1,5 Millionen Pfund herabzusetzen. Der englische Dominienminister Malcolm MacDonald äusserte, er könne nicht viel Hoffnung erwecken, dass die Dominien in nächster Zeit bereit sein würden, viele britische Auswanderer aufzunehmen. Im Verlauf der Aussprache kam es dann zur Erörterung von Problemen, die für uns Juden von beträchtlichem Interesse sind. Der Abgeordnete der Labour Party Sir Robert Young unterstrich die Schwierigkeiten, die für das britische Reich durch eine fortdauernde verstärkte jüdische Einwanderung nach Palästina zu befürchten seien, und regte an, einen Teil des jüdischen Einw ander er Stroms in die Dominien z u lenken. Im einzelnen führte er aus:
Bei dem Wanderungsproblem gebe es eine Reihe industrieller und wirtschaftlicher Faktoren, die nicht leicht zu behandeln seien. Trotzdem müsse er sich manchmal darüber wundern, dass ein Wanderungsproblem überhaupt vorhanden ist und dass die unbevölkerten Gebiete des Reiches nicht so schnell aufgefüllt worden sind, wie dies seinerzeit in Amerika der Fall war. Der Grund hierfür sei keineswegs darin zu sehen, dass es an Mensehen hierzu fehlt. Es gibt viele Tausende, sagte er, die aus Deutschland, Polen, Russland und anderen Ländern ausgewandert sind und sich gerne in einem Land innerhalb des Britischen Reiches niederlassen würden, um dort ein Leben in Freiheit und in dem Genuss aller''Bürgerrechte zu führen. Warum wird nicht ein Teil der Mittel der mit Auswandererfürsorge befassten Stellen dazu benutzt, die Ausgewanderten dort anzusiedeln? Die Juden z.B. könnten Heimstätten für ihre Glaubensgenossen etwa in Australien finden.
Der Redner gab seiner vollen Sympathie für die Juden Ausdruck, die in verschiedenen Teilen der Welt in Not geraten seien. Aber im Hinblick auf die Ereignisse in Palästina, auf die Unruhe, die vermutlich nicht leicht werde beschwichtigt werden können, in naher Zukunft vielleicht wieder
In dieser 20seitigen Nummer finden unsere Leser u.a.: Die Aufsätze:
C.-V.-Wegweiser durch Berlin. Von Heinz Berggrün. — Knut Hamsuns neuester Roman. Von Julius Bab. — Werfeis „Weg der Verheissung". Von unserem New- Yorker St. - Berichterstatter. — Aus der Praxis des Reichsfluchtsteuerrechrs. Von Dr. Werner Gallewski. " Die Beilagen:
Buch und Kunst. — Kinderblatt. — Sportblatt. — Palästina-Umschau. — Wirtschaft der Woche. — Schachecke.
aufflammen werde und auf die anderen politischen Wirren in vielen Teilen des britischen Reiches und in anderen Teilen der Welt müsse man fragen, warum nicht das jüdische Volk einen grossen Teil seines Reichtums benutzen sollte, um neue Heimstätten für seine Glaubensgenossen in Australien zu finden. Es sei sicher, dass sie dort ebenso glücklieh, zufrieden und erfolgreich sein würden, wie in anderen Teilen der Welt.
Ein anderer Abgeordneter der Labour Party, F. J. B e 11 e n g e r, bezeichnete diesen Ausführungen gegenüber Palästina als Vorbild für das übrige britische Reich. . Haben die Mitglieder des Hauses, so fragte er, bei der Behandlung dieses Problems über Palästina nachgedacht? Das Land war völlig entvölkert, jedenfalls gab es sehr wenige Juden dort. Dadurch aber, dass Palästina infolge der Balfour-Deklara- tion zu einer neuen Heimat für die Juden geworden ist, kam es in den letzten Jahren" zur Blüte. Palästina hat anscheinend dieses Problem in weit wirksamerer Weise gelöst, als es für die Lösung der Reichsprobleme hier vorgeschlagen wird.
: Aus dem Verlauf der Debatte ging im übrigen hervor, dass Queensland und Südaustralien bereit sind, Einwanderer bestimmter Arbeiterkategorien in beschränkter Zähl aufzunehmen. Nach Auffassung des „Manchester Guardian" kommt das im Parlament beratene Reichssiedlungsgesetz überhaupt erst für eine vorläufig noch ungewisse Zukunft in Betracht. Praktische Bedeutung werde es erst erlangen, sobald die Dominien sich bereiterkiären würden, einer mit Reichsunterstützung durchgeführten Wanderung zuzustimmen. Kanada und Neuseeland seien bisher hierzu nicht bereit.
Eine Rede des Generals Smuts
. Eine starke- innere Verwandtschaft mit gewissen in London vertretenen Anschauungen wies die Rede auf, die der frühere südafrikanische Ministerpräsident und amtierende Justizminister General Smuts bei einer grossen Kundgebung am 25. Januar in Kapstadt gehalten hat. Er trat den Bestrebungen, weiteren Zuzug von Europäern vom Lande fernzuhalten, entgegen und betonte die Notwendigkeit, die Z a h 1 der europäischen Bevölkerung zu vergrössern und die Tore Südafrikas für eine grosszügige; Einwanderung offenzuhalten. Südafrika werde in den nächsten zehn bis : fünfzehn Jahren nicht nur innerhalb des Britischen Reiches eine erhöhte Bedeutung erlangen, sondern auch im gesamten Welt- gefüge eine wesentlich wichtigere Stellung; einnehmen als heute. Es sei vorauszusehen, dass das Land eine Stufe der Entwicklung erlangen. wird, die sich heute nur die wenigsten träumen lassen. Die künftige Einwanderungspolitik, durch die dieser Aufschwung herbeigeführt werden soll, müsse so beschaffen sein, dass das beste Mensehenmaterial für die Einwanderung ausgewählt wird. Wenn die Zahl der Europäer durch den Zuzug solcher Elemente entsprechend erhöht wird, dann werde den Erfordernissen des Landes genüge getan werden können.
In der massgebenden Presse Südafrikas haben diese Aeusserungen des Justizmini
sters lebhafte Zustimmung gefunden. Die „Cape Times" weist darauf hin, dass die durch das neue Einwanderungsgesetz vorgesehene Beschränkung der Einwanderung auf die geeigneten Elemente nur eine, und zwar die negative Seite des Einwanderungsproblems löse. Es handele sich vor allem darum, im Hinblick auf die zu erwartende Entwicklung des Landes den Gesamtumfang der Einwanderung zu vergrössern. Der durch den Aufschwung des Landes bedingte Zustrom von Einwanderern allein reiche nicht aus. Man müsse sich fragen, ob in fünfzig Jahren eine europäische Bevölkerung von sogar 4 Millionen zur Bewältigung der Aufgaben ausreichen würde, die sich bei der gewaltigen Entwicklung Südafrikas ergeben werden.
Auch in dem grössten Teil der übrigen Blätter Südafrikas wird das Prinzip einer strengen, aber objektiven Auslese des Ein- wanderungsmaterials, wie dies in dem am Mittwoch voraussichtlich Gesetz werdenden Entwurf vorgesehen ist, als eine für die künftige Entwicklung Südafrikas wesentliche Regelung begrüsst, *
Die starke jüdische Aufklärungsarbeit in der Welt, insbesondere auch von nicht
zionistischen Kreisen, darüber, dass die Juden aus ideologischen Gründen nicht etwa ausschliesslich nach Palästina wollen, sondern jede neue Existenzmöglichkeit begrüssen, wo sie mit ihrer Ehre und ihrer Würde in Einklang zu bringen ist, hat gerade in der letzten Zeit, wie die englische Unterhausdebatte und auch die Rede des Generals Smuts, die wir nebenstehend wiedergeben, erkennen lassen, begonnen, ihre Früchte zu tragen. Es wäre vermessener Optimismus zu meinen, dass durch diese Reden die Fragen ihrer Lösung auch nur in begrenztem Ausmass nähergebracht worden seien. Aber es bedeutet gegenüber früher doch schon einen begrüssenswerten Fortschritt, wenn sie iu voller Oeffentlichkeit und Klarheit an den Stellen erkannjÄÄden, die auch in der Lage sind, o^^^H|lich und praktisch aus den ErkenJBBBR die Konsequenzen zu ziehen. Die juarsche Aufgabe in dieser Situation kann nur darin bestehen, jene Kreise nicht durch Auseinandersetzungen innerjüdischer Art zu verwirren und zum anderen auf die Schulung und Vorbereitung der zur Auswanderung drängenden Massen ein HÖchstmass an Arbeit zu verwenden, damit sich um die neuen jüdischen Zentren nicht neue Spannungen bilden; durch eine von vornherein überlegte planmässige Ansetzung jüdischer Menschen soll der Beweis geführt werden, dass Spannungen nicht im jüdischen Menschen, vielmehr in den Verhältnissen ihre Ursache haben, in denen diese zu leben gezwungen sind.
Am Rande des; Problems
In diesen Wochen, in denen die Spannkraft der Juden an vielen Orten der Welt auf eine harte Zerreissprobe gestellt ist, in denen überall in drängender Sorge um Lösungen gerungen wird, lenkt zum zweiten Male ein Schauspiel die Augen der jüdischen Welt auf sich, in dem sich alle Lebensangst und zugleich auch alle mes- sianische Sehnsucht einer von den Nöten dieses Daseins geplagten Judenheit zusammenballt, und das dennoch vor allem grotesk verzerrende Züge zeigt.
Jener polnische Advokat Wilhelm Ryp- pel. der schon einmal mit dem phantastischen Projekt eines „Erlösungsmarsches" von Warschau quer durch die Länder Ost- und Südeuropas nach Palästina von sich reden machte, hat sieh mit seinen wohl vor allem jugendlichen Leidensgenossen noch einmal auf den Weg gemacht. Wieder ist er, wie schon bei seinem ersten Versuch, gescheitert, als er einige Dutzend' Kilometer von seinem Warschauer Startplatz entfernt auf polnische Polizisten traf. Ein Unternehmen, das, wie vielleicht die jüdischen Wanderungen zu Zeiten eines Schabbatai Zwi, die Augen der ganzen Welt auf die ins Masslose gewachsene, tragische Not der Juden Osteuropas lenken sollte, hat damit ein wenig lächerlich und ein wenig beschämend, wenn auch nicht ganz so theatralisch wie die historischen Wanderungen zu den falschen Messiassen, geendet. *
Es ist nicht ohne Reiz, sich zu vergegenwärtigen, welche Gedankengänge Ryppel und seine Freunde zu ihrer Unternehmung veranlasst haben mögen. Sie haben gesehen, wie die jüdische Not brennend wurde, wie Komitees, Konferenzen, Orga* nisationen und hin und wieder sogar amtierende Minister sich um sie bemühten, ohne doch die Dinge wirklich zu ver
ändern. Sie haben Versprechungen und Proklamationen gehört, sie haben Pläne und Projekte entstehen und zu Aktenbündeln anwachsen sehen, sie haben diese, und sie haben jene jüdisch-politische Konstellation hoffend und zitternd durchlebt — aber in der Welt der Wirklichkeit bewegte und veränderte sich — wenigstens für sie — kaum etwas. Es ist wohl begreiflich, dass sie dieses Getriebe einer Scheinwelt mit einer naiv-deutlichen, wenn auch offenbar ganz zwecklosen Geste zu übertrumpfen gedachten, um die Gemüter und die Gewissen zu wecken, die sich in dem sicheren Bewusstsein eines gut organisierten Komitees beruhigt hatten.
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Vor einer Woche hatten wir Nachrichten aus dem Pariser Kolonialministerium verzeichnet, die offenbar das Ergebnis von Bemühungen zweier territorialistiseher Organisationen waren und die, weil sie auf Aeusserungen des Ministers M outet selbst zurückgingen, realerer zu sein schienen. Es drangen auch von. einer Warschauer Pressekonferenz her Aeusserungen führender Mitglieder der bekannten territoria- listisohen Liga „Freiland" in die jüdische Oeffentlichkeit, wonach diese sich mit statistischem und wissenschaftlichem Material an systematische Vorarbeiten gemacht hat, um die Grundlage für Erklärungen, wie eben die des französischen Kolonialministers, zu schaffen. Auch einen Appell der Vereinigung für Auswandererfürsorge „Emcol" in London glaubte man in der Richtung ideologieferner, nüchterner Lösungsvorschläge deuten zu dürfen. Dann aber kamen von dem Kolonial-Unterstaats- sekretär Bouteille Erläuterungen und Einzelheiten zu den französischen Siedelungs- plänen: es werde im Jahre 1937 kaum möglich sein, mehr, als 10 jüdische Familien
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