Serlkn» S. Juli 1927 VI. Jahrgang * XiußT
ixinselnummer 10 Pfennig. n. BicrteUaorsabonuement 1,20 NM. lauaußu xjeueuaeioj.
»erlaa u. Echrikileitung: Berlin 8^V 63, LinLenstr. IS. Fernsprecher: Am! DSnhoff S2A, SSW. Postschecklento: Berlin SA72. Bankkonto: Dresdner Boni. Wechselstube 6. Berlin Si>^ Linde,>str. 7. und von Eoldschmidi-D-ihschild L Co., Berlin 7VS. ^ m„ntt
Alleinige Anzeigenannahme: Annoneen-Expedition Rudolf Mosse, Berlin SW 19, und deren Filialen. Anzeigenpreise: 0,90 rttt dre TgespaUene ZeUe nach Rudolf Kormalzeilenmeffer Nr. 4, Familienanzeigen und Elellengesucde (nicht Stellenangebote) für Mitglieder des Centralverrins 0.4o JlJi, dre jO mm breite Rerlamezett- 4,au J
WUWiWWJilSülfiJ
Die Geschichte, die wir Juden rnnerhakb der uns umgebenden Menschheit erlebt haben und noch erleben, war stets von der Tatsache bestimmt, daß wir die wenigen unter den vielen sind; und alles Hohe und Große, unser Stolz und unser Leid, die Tragik unseres Schicksals, seine Einsamkeit und sein Martyrium^ all das ist ganz wesentlich 'dadurch gefügt worden, daß wir immer eine hoffnungslose Minderheit blieben und selber eigentlich unser Geschick in seiner Tiefe so empfanden. Wir hatten darum auch für uns jederzeit den Trost bereit, daß nicht die Zahl, sondern der Geist, nicht 'die Menge, sondern die Gewißheit des Besitzes heiligen Gutes eine Gemeinschaft würdig gestalte, und da wir uns nicht an der Vielzahl der Masse berauschen konnten, so bereitete es uns — wenigstens theoretisch — eine hohe Genugtuung, die Vielfältigkeit der Meinungen, Gefühle und Denkarten zu beobachten, in denen der kleine jüdische Ausschnitt der Menschheit sich besonderte, — eine so bunte Verschiedenheit, daß der Kenner oft zweifeln möchte, ob bei uns überhaupt von einer „Masse" im gleichen Sinne wie anderwärts geredet werden kann.
Diese Erscheinung, von deren Tatsächlichkeit sich jeder leicht überzeugen kann, gereicht uns oft. wenn wir fern vom Schauplatz praktischer Gemeinschaftsarbeit über uns und unser „Wesen" nachstnnen, zur rechten Erbauung. Wir lasten uns gern preisen, daß wir — jenseits von Herdentum n.nd uniformem Charakter — individuellen Ueberzeugungen, persönlichen Stimmungen weiten Raum geben, machen wohl aus unserer Unbequemheit, die jede Organisierung so erschwert, eine Starke, loben uns selber ob unserer Eigenwilligkeit und Tapferkeit, ob unseres eingeborenen Strebend, selber zu sehen, selbst überzeugt zu werden, wie wenn wir so, jeder von uns gleichsam in unfern innerjüdischen Beziehungen, die Geschichte wiederholten, die das Judentum im Verhältnis zu seiner Umgebung hat, nämlich, seine Besonderheit zu fühlen.
Ja, das gehört wohl eng zusammen, erstens, daß wir nur wenig sind und zweitens, daß innerhalb dieser geringzähligen Schar die einzelnen auf die Eigenbedeutung ihrer einzigartigen Persönlichkeiten halten. Aber so wird aus der Tugend allzuoft eine Not und aus erbaulicher Geschichtsbetrachtung im Effekt nicht selten ein schlimmes Aergernis. Haben wir Juden, wir halbe Million deutscher Juden, eine Oefsentlich- ?eit in gleichem oder ähnlichem Sinn wie irgendeine andere Bevölkerungsgruppe, dre sich durch Bedingungen irgendwelcher Art als eine Einheit empfindet? Gibt es überhaupt ur unserem Kreise eine auch nur einigermaßen scharfe Grenz- lckftide zwischen privatpersönlichen und öffentlichen Angelegenheiten? — Wir verstehen aber hier unter Oeffentlichkeit jene Weite und Breite des Schauplatzes, auf dem sachhafte Gedanken, durch objektive Ziele gelenkte Willensbeweguugen Mteinan'der ringen, Ideen und Strebungen, die, längst den sie ursprünglich beherbergenden Einzelpersönlichkeiten entwachsen. ein^eigenes starkes Leben führen, die Menschen auf ihrem Strome tragen, aber nicht umgekehrt zur Ausstaffierung
und Anpreisung persönlicher Velleitäten dienen. Oessentlich- fett ist der Bezirk, wo die Sache herrscht. Das heißt' keineswegs das Paradies der Unschuld, in dem die reine Luft materieller Uninterestiertheit weht. Die Millionen Menschen, die in politischen Parteien oder, ohne erst den Umweg über eine weltanschauliche Ideologie zu nehmen, in wirtschaftlichen Verbänden saus phrase organisiert sind, sehen gewiß als die „Sache" ihren meistens sehr handgreiflichen materiellen Vorteil an; der Triumph der Partei oder der Sieg des Verbandes im wirtschaftlichen Kamps haben letzten Endes nur den Sinn, dem Interesse des einzelnen zu dienen. Aber wie oft auch menschlich, allzu menschliche Kleinlichkeiten den Charakter der Führer und ihrer Stäbe' verunzieren mögen, wie sehr Eitelkeit und Strebertum, Intrigen und Ränke aller Art die unvermeidlichen Begleiterscheinungen organisierter Massenbewegungen und ihrer Lenker sind, — nie kann hier der Sinn der ^ache gänzlich verloren gehen, um welche gekämpft wird; denn es ist auf die Dauer gar nicht möglich, wirkliche Volks- maffen lediglich zu ^tatiften ganz persönlicher Aufgeblasenheit, privaten Eigennutzes und Querköpfigkeit von Menschen, die sich in Führerrollen großtun wollen, zu machen. Das wird eben durch die Eigengesetzlichkeit eines tatsächlich öffentlichen Lebens verhindert, in welchem um sehr reale, den Willen gewaltiger Scharen notwendig anreizende und beflügelnde Ziele gerungen wird. So vollzieht die echte Oeffentlichkeit immer und überall eine Auslese der wirklich Brauchbaren; denn hier hat ja auf die Dauer nur der Tüchtige : — der zu bestimmter Aufgabe hervorragend Taugliche — Glück. Es handelt sich nicht bloß und nicht einmal in erster Linie darum, daß dieses stirviva! o! tho fittest auf dem Boden einer zahlenmäßig unübersehbaren Auswahlmöglichkeit geschieht, sondern vor allem dartun, daß die echte Oeffentlichkeit allein, den Privatmenfchen in den Hintergrund zu drängen. Subjekt von Subjekt zu distanzieren und so eben den Menschen der Sache herauszustellen vermag.
Wir Juden sind wenige. Wohl wäre es eine große Ueber- treibung, wenn wir sagten, daß jeder jeden so ziemlich kennt. Aber bis vor kurzem — und der Zustand wirkt noch in aller Stärke nach — war es doch so, daß die deutsche Judenheit in einige wenige landsmannschaftliche Gruppen zerfiel, — Berlin-Ostdeutschland, Hamburg, Rheinland-Westfalen und der Süden — die, im großen und ganzen der gleichen sozialen Sck;icht angehörig, untereinander fast nach Art eines sehr großen Familienkreises zusammenhingen. Es gibt angenehme und weniger gern gelittene Verwandte, aus innerstem Herzen geliebte turd mit nicht geringer Leidensckzastlichkeit gehaßte und gemiedene. Die vielberedete, gerühmte, getadelte und geneidete, zum Lob und zur Schande angerechnete jüdische Solidarität hat bestimmt darin ihre tiefste Wurzel, daß wir so wenige sind; Glaubens-, Bluts-, Schicksals- usw. Gemeinschaft rangieren erst weit hinterher, wenn es sich darum