492

Im deutschen Reich.

ergreife, sondern die volle Emanzipation ausspreche, die zwar zuerst einige Mißstände im Gefolge haben, aber allmählich zur Verschmelzung führen werde, so daß die Angehörigen desselben Staates nicht mehr Juden oder Christen, sondern Menschen, Bürger und Brüder seien. Ein anderer Grund, der für die Emanzipation der Juden angeführt wurde, war der, daß der Staat das Prinzip der Religions- und Gewiffensfreiheit auf seine Fahne geschrieben habe, daß dieses Prinzip aber so lange eine armselige Täuschung bleibe, als man nicht auf den Standpunkt gelangt sei, den Juden die volle Gleichberechtigung zu gewähren. Es sei aber auch Ehren­pflicht des Staates, Verheißungen, die er den Juden gegeben, getreulich zu erfüllen; diese Verheißungen seien im Edikt von 1812 und in der Vundesakte von 1815 enthalten und würden durch den Gesetzentwurf durchbrochen. Die Negierung mache sich also des Wortbruches schuldig, wenn sie jetzt auf dem Gebiete der Juden­gesetzgebung Rückschritte mache. Von anderer Seite wurde darauf aufmerksam gemacht, daß der Staat durch die Gleichberechtigung der Juden sein eigenes Interesse verfolge, indem er die Sittlichkeit der mittleren und unteren Schichten auf diesem Wege am besten hebe, wie dies das Beispiel Frankreichs beweise. Der Abgeordnete v. Beckerath führte als Gründe für die Emanzipation an, daß die Juden in ihrem Begriff von den Pflichten des Bürgers gegen den Staat auf einem hohen sittlichen Standpunkte stehen, daß das Prinzip der christlichen Moral, welches das Prinzip des Rechts und der Freiheit sei, zur Ausführung gelangen müsse und daß der Staat moralisch verpflichtet sei- eine tausendjährige Schuld gegen die Juden dadurch zu sühnen, daß er den Druck aus der Welt schaffe.

Gegen die Forderung der vollständigen Befreiung wurde von ver­schiedenen Seiten das Prinzip des christlichen Staates wiederholt geltend gemacht. So meinte der Staatsminister v o n T h i l o, es sei mit diesem Prinzip unvereinbar, Mitgliedern des Staates die Gleich­berechtigung zu gewähren, die kein anderes Vaterland, haben als das, worauf ihr Glaube sie hinwiese, nämlich Zion. Der christliche Staat sei ein Körper, dessen Organe alle von den christlichen Heilswahrheiten durchdrungen sein müßten, wenn er nicht zu Grunde gehen solle. Dagegen wurde erklärt, daß der Staat auch dann ein christlicher bleibe, wenn er die Juden an allen Rechten theilnehmen lasse;