Nr. 18
Wien, Freitag
Jüdisches Volksblatt
1. Mai 1903
Seite 3
laud) die größten Kapazitäten, nicht nach den deutschen »Gemeinden. In Deutschland ist der Rabbiner nicht ein- mal eine Amtsperson, nur ein privater Diener der Re- «igionsgemeinde. Ein ähnliches Verfahren der österreichischen Regierung inbezug auf fremdländische Pro- »sessoren der Universität wurde in den öffentlichen »Blättern erst jüngst besprochen und das Vorgehen, zu- »nächst einheimische Kräfte zu verwerten, verschieden be-- luvteilt. Die österreichischen Rabbiner sind Amtspersonen, INatrikenführer, Trauungsfunktionäre, Religionslehrer an »Staatsanstalten; der Staat hat somit ein Interesse, nur »Inländer anstellen zu lassen, und in der Tat darf nach Idem Gesetze ein Ausländer nicht bestätigt werden. Aus- Iländer erhalten aber mit Leichtigkeit in Oesterreich das »Staatsbürgerrecht und erlangen demgemäß eine Rabbineristelle in Oesterreich, was einem Oesterreicher in Deutsch- Ilcmd nicht möglich ist. Warum die Kultusgemeinden in »Oesterreich nicht — um nicht zu sagen so patriotisch — l)o politisch sind, den gleichen Vorgang, wie die Be- Ihörden in Deutschland gegen österreichische Rabbiner, wie »die österreichische Negierung gegen ausländische Gelehrten Izu beobachten, ist nicht erfindlich. Muß denn nicht den »Kultusgemeinden in erster Linie die Versorgung der in- »ländischen Rabbiner am Herzen liegen, zumal noch das I Besetzungsgebiet für deutschsprechende Rabbiner in »Oesterreich mit jedem Jahre immer enger gezogen Iwird? Wenn nun sogar die Kapitale, die erste Groß- I gemeinde Oesterreichs die ersten und besten Stellen mit I Ausländern besetzt, so ist damit ein schlechtes, für die I österreichischen Rabbiner folgenschweres und sehr schädigen- Ides Beispiel gegeben. Die großen Gemeinden sind immer I maß- und ausschlaggebend für die kleineren und was für I die größten nicht gut genug ist, ist es auch nicht für die »kleinsten. Man braucht nur daran zu erinnern, wie es I den Rabbinatskandidaten erging, die kein Seminar ab- | solvierten, als es Mode geworden war, nur Absolventen »des Breslauer Seminars anzustellen. Die Breslauer er- » hielten die fettesten Pfründen und die anderen, waren I sie auch um vieles besser, mußten sich mit den Abfällen I begnügen.
» Alle diese Argumente müßten aber schwinden und » nicht der geringste Vorwurf könnte gegen den Wiener I Kultusvorstand erhoben werden, wenn dieser es darauf I abgesehen hätte, wirkliche Kapazitäten, Größen ersten I Ranges für die ersten Kanzeln des Reiches zu suchen und I zu erwerben. Solche Größen und Genies sind in der I Tat nicht immer im eigenen Lande zu haben, da muß I man schon zumeist weit ausholen, und hat man das Glück, I solche irgendwo zu entdecken, so muß man sie nehmen,
> wo man sie findet, und keine der Gottheiten niederen » Ranges hat Ursache oder Recht, sich darüber zu be- I schweren; vor der Größe beugt sich die Selbsterkenntnis | demütig. In diesem Falle handelte es sich der Wiener | Gemeinde gar nicht um Größen, für diese geben ja die I glücklichen Besitzer der Kanzeln nicht Raum und für'das I dringende Tagesbedürfnis reicht das Mittelmaß voll- I kommen aus. Daß nun für das Mittelmaß nicht öster- I r e i ch i s ch e Rabbiner gefunden werden konnten, ist » zuin mindestens kein Kompliment für den österreichischen » Rabbinerstand, ist aber der schwerste Tadel, der gegen » einen Kultusvorstand und am stärksten gegen einen Vor- I stand der Kapitale des Reiches erhoben werden muß, » der nicht das Verständnis hat, seinen eigenen K in- I d e r n Gelegenheit zu geben, ihre Kräfte an erster Stelle I zu üben und zu bewähren, und der nicht den Kennerblick I hat, Mittelmäßiges in der Nähe zu finden, und sich darum I vor dem Inland und dem Ausland kompromittiert.
I Hat denn der Wiener Kultusvorstand gar so treffliche
> Erfahrungen mit den importierten ausländischen Rabbinern I in Wien gemacht? Bis zu Dr. Jellineks s. A. Tode
Judensrage und Fraucnsrage.
Eine Unterhaltung.
Von A. Halberthal-Berlin.
In einem Kreis von Frauenrechtlerinnen befand ich mich und war merkwürdigerweise der einzige Mann.
Eine bekannte Berliner Schriftstellerin hielt dort einen Vortrag, dessen Thema mein Interesse erregte und so ging ich hin.
Nach dem Vortruge blieb man noch eine Weile gemütlich beisammen. Da ich jedoch allein bei einem Tische saß, war die Vorsteherin so liebenswürdig, mich zur Gesellschaft heranzuziehen.
Ich stellte mich vor und nach den üblichen, dem „Linien- reiz" nicht gerade zum Vorteil gereichenden Verbeugungen nahm ich am gemeinsamen Tische Platz. Ich kam zwischen zwei Frauen zu sitzen. Eine alte, intelligent aussehende Dame schlürfte behaglich ihren Kaffee, während ich mich mit der Jungen unterhielt.
„Wie es denn kommen mag, daß so wenig Männer ein Interesse zeigen" — fragte ich einleitend und erhielt in freundlicher Weise Auskunft: „Männer gehören aufs Kampffeld..." Es klang fast ironisch, wie sie das sagte. Und so waren wir nach einiger Zeit in heißer Debatte — im Fahrwasser der Diskussion. Die Wellen spritzten nur so hoch . . .
„Es gab eine Zeit, wo wir viele Männer auf unserer Seite hatten, aber die waren alle — Juden..kam endlich das Geständnis.
Ich war verblüfft.
Sie mochte es mir wohl angesehen haben, denn rasch fügte sie hinzu: „Ich habe gegen einen jüdischen Freund persönlich nichts... Im Gegenteil: Einige zähle ich mit Freude zu meinen speziellen Freunden —"
gab es in Wien drei Prediger, Mannheimer, Jellinek und ©Übemann, davon waren zwei Ausländer, nur Dr. Jellinek ein Oesterreicher aus Ung. Brod in Mähren. Man kann über Mannheimer denken, wie man will, aber als Redner, Gelehrter und Schriftsteller überstahlte doch der Inländer beiweitem die beiden Ausländer, wie ja in genügender Selbsterkenntnis Dr. G ü d e- m a n n selbst den Tod' Jellineks als den Beginn der Hungerjahre für die Kanzel in Wien bezeichnete. Abgesehen von der Persönlichkeit Dr. G ü d e m a n n s, von seinen Fähigkeiten und Leistungen, muß heute jedermann und selbst der Kultusvorstand zugeben, welch schwerer Fehler damals begangen wurde, wenn damals ein Rabbiner aus Magdeburg geholt wurde, um die von Jellinek verlassene Leopoldstädter Kanzel einzunehmen, für welche der damalige Vorstand keinen geeigneten österreichischen Rabbiner ausfindig machen konnte. Erst 20Jahre wurde später ein Oesterreicher und wieder ein Sohn Mährens, Dr. Schmiedel, schon dem G^ßksenalter nahe, auf diesen Posten als der berufenste gestellt, den er wohl nach jeder menschlichen Berechnung im Jahre 1866 als Mann in den besten Jahren, auf der Höhe seines Schaffens viel entsprechender noch hätte ausfüllen können. In einem oder zwei Jahrzehnten dürften wieder ähnliche Ergebnisse dem nachmaligen Vorstande entgegentreten und die Gemeinde belehren, daß die Vorstände sicherlich den besten Willen, aber nicht immer das gediegene Verständns dafür haben, was der Gemeinde insbesondere und der Judenheit im allgemeinen nützt und frommt.
Noch ein weiterer Vorwurf kann dem Wiener Kultus- vorstande nicht erspart bleiben. Durch die getroffene Wahl hat der Vorstand das von ihm selbst mit großer Anstrengung und schweren Opfern ins Leben gerufene Rabbiner-Seminar überflüssig gemacht, ja nicht allein überflüssig und entbehrlich gemacht, vielmehr moralisch vernichtet, und hätten die jüdischen Theologen etwas Burschen- und Studentengeist, würden sie sämtlich das Wiener Seminar verlassen und nach Breslau oder Berlin auswandern. Wenn von einem Wiener Kultusoorstande — und die der anderen Gemeinden werden dem schönen Beispiele folgen — bei genügend vorhandenen mittelmäßigen Kräften ausländisches Mittelmaß vorgezogen wird, wozu noch ein österreichisches Seminar? Für das Inland werden die Kräfte nicht verwertet und ins Ausland dürfen sie nicht. Wäre es da nicht viel einfacher, das Seminar aufzulaffen und aus den vorhandenen reichen Mitteln allen Theologie-Studierenden reichliche Stipendien zu verabreichen, damit sie im Auslande ihre Studien vollenden und mit ausländischer Marke „Made in Germany " ins Vaterland als geeignete Rabbiner zurückkehren und eine Stellung finden, die sie als Zöglinge des Wiener Rabbiner-Seminars bisher nicht erreichen können?
Stellung müßte auch noch der ganze Rabbinerstaud gegen ein den ganzen Rabbinerstaud und das Amt des Rabbiners auflösendes Vorgehen des Wiener Kultusvorstandes nehmen. Es wurde in den öffentlichen Blättern die Behauptung bis zum Grade der Gewißheit aufge- stellt; „Zwei der gewählten Rabbiner hätten von den Anstalten, die sie besucht hatten, keine Hathora, überhaupt keine giltige unanfechtbare Hathora." Dagegen müßte jeder wirkliche Rabbiner und alle Rabbiner energischen Protest erheben, daß ein Kultusvorstand sich das Recht anmaße, irgendeinen Mann, und wäre er der größte Gelehrte und der bedeutendste Mann der Wissenschaft, wenn er keine Hathora besitzt, zu einem Rabbiner zu machen. Das hieße doch in unverantwortlichster Weise den Wirkungskreis überschreiten und Mißbrauch mit dem Amte eines Vorstehers treiben, wenn die Kultusvorstände die Hathora
„Aber —"
„Das jüdische Element wirkt zersetzend auf ein Vereins- weseu..."
„Darf man auch die Begründung hören?"
„Tatsache... Jeder einzelne will regieren, die Obermacht an sich reißen... bis alles auseinandergeht..."
Ich sann eine Weile nach.
„Wissen Sie, daß die Frauenfrage und die Judenfrage ans ähnlichen Motiven entstanden — gnädiges Fräulein ?"
HJawohl. Das Weib ist in der Welt fremd, an den großen Geschehnissen des Alltags unbeteiligt gewesen... Nicht immer: Der Eigendünkel und die Ueberhebung des „starken" Geschlechtes hat sie gewaltsam hinausgedrängt —; sie sind auch schwach geworden —• ihre Energie, wie ihre Tatkraft ist gelähmt..."
„Aber die Juden — Ihr Blick sagte es mir, daß sie diese Frage stellen wolle. Ich fuhr also fort:
„Die Juden sind ebenfalls Fremde.. . Sie müssen für ihren Stand im täglichen Kampfe ringen. Eigendünkel und Ueberhebung der „starken" Einsässigen hat sie aus der Position der Zeitfragen heransgedrängt. . . Sie haben auch Mängel und ringen heiß und schwer. . . Haben Sie noch nie darüber nachgedacht?"
Etwas Verlegenheit folgte auf diese Frage. Sie hat meinen Ausführungen gelauscht und sie scheinen Eindruck auf sie gemacht zu haben.
„Das ist eine merkwürdige Parallele ..
„Denken Sie nur darüber nach, gnädiges Fräulein... Sie werden auf viele Aehnlichkeiten stoßen (auch im inner» Wesen) zwischen „Judenfrage und Franenfrage."
durch ihre Ernennung ersetzen. Die Kultusvorsteher sind heutzutage nichts weniger als Talmudgelehrte oder rabbinische Autoritäten, haben somit in religiösen Dingen gar kein Urteil. Sie können einen Rabbiner, der die theologische Befähigung uachgewiesen, zum Rabbiner kraft ihres Vorsteheramtes ernennen, aber sie dürfen niemand, der diesen Befähigungsnachweis schuldig geblieben, zum Rabbiner machen. Wenn einWiener Kultusvorstaud für die erste Gemeinde des Reiches nicht autorisierte Rabbiner anstellt und glaubt, sich das einer Kultusgemeinde nirgends zuerkannte Recht, auf die Autorisation durch eine rabbinische Autorität verzichten zu können, vindizieren zu dürfen, so ist die Erlangung einer Hathora von Seiten der Kandidaten überhaupt illusorisch gemacht, d a n u sind d i e S e m i n a r i e n g a n § überflüssig; dem: was in Wien gestattet, ist auch in der kleinsten Kultusgemeinde nicht verboten, und das böhmische System der Hathora-losen Dispens-Rabbiner wird österreichische Norm. Gerade das wäre der Punkt, wo die Seminare einzusetzen hätten, daß kein Rabbiner entlassen werde, wenn er nicht die Hathora rite erlangt, und daß die Regierung keinem Rabbiner die Bestätigung gebe, der nicht den Befähigungsnachweis erbracht hat. Heutzutage in der Blütezezeit der Befähigungsnachweise dürfen auch die Rabbiner davon nicht befreit werden. Allerdings müssen auch die Seminare so eingerichtet werden, daß die Kandidaten nach sechs Jahren ihre Autorisation selbstverständlich erhalten, wie die Abiturienten von mittelmäßiger Befähigung nach Absolvierung der acht Klaffen ohne übermenschliche Anstrengung ihr Reifezeugnis erlangen. So kann die Reflexion über die Wiener Rabbiner- Wahl selbst als res judicata von manch praktischem Nutzen für die Wiener und die anderen Kultusgemeinden und auch für die Rabbiner werden.
Chronik.
Inland.
Bon der Wiener Knltnsgemeinde. DieRechnungs- abschlüffe über die Einnahmen und Ausgaben der Kultusgemeinde und sämtlicher unter Gemeindeverwaltung stehender Fonds und Anstalten (Jahr 1902) liegen vom 26. April durch 14 Tage im Sekretariate (L, Seitenstettengasse 4, 2. Stock) znr Einsicht der Gemeindemitglieder ans. Die Gemeinde- Mitglieder sind berechtigt, innerhalb dieser Frist ihre Erinnerungen schriftlich einzubringeu. Die öffentliche Vorstandssitzung zur Erledigung der Rechnungsabschlüsse wird auf Sonntag den 10. Mai vormittags 11 Uhr anberaumt.
Der Verein znm „JanuSkopf" oder znr Zweiseelentheorie hielt jüngst seine Generalversammlung ab. Sehr wider seinen Witteil ist er ans cincv österreichischen Union gu einer israelitischen Union geworden. Aber angesichts des vottställdigell Bankerottes der mit ihr verkuppelten liberalen Partei hatte es keinen Siilil nlehr, die Tänschllilg aufrecht zu erhalten nnd so ivllrde lnall, durch die bittere Slot gezwungen, „israelitisch". Aber der ganze HabitnS des Vereines hat das Aussehen einer solchen politischen Zangengeburt. Die Mitglieder vereinigt llicht erva die gelneiilsanle Nationalität, sondern der Glaub e, ben sie n i ch t besitzeil. Der Verein besaßt sich angeblich llicht mit Kultus- angelegenheiten, iveil er politisch ist unb er besaßt sich llicht mit Politik, iveil die alten Freisiuuigell auSgestorbeu sind; er wartet mit seiner politischen Tätigkeit, bis sich eine neue freisinnige Partei bilden wird. „Da werden Sie ein alter Jud iverden", rief ein Mitglied dazwischen. Wir wollen nur noch die Fre—iheit des Herrn Sekretärs näher beleuchten, mit der er ans Andere Steine marf. Ein Mitglied forderte nämlich die Leitung auf, für den Frieden innerhalb der jüdischen Gemeinde zu wirken. Darauf meinte der zungenfertige Herr, daß man diese Mahnung nicht an die Union richteli solle, sondern an die, „die den Frieden in der Gemeinde systematisch untergraben". Wir sind der beseheidenerr Ansicht, daß der R-'dner sich au die richtige Adresse wandte, denn anläßlich der KultuSgemeindelvahlen lag ein K o m p r o m i ß a n t r a g vor, der aber auf Antrag des Obmannes der „Union" verworfen wurde; der Herr erklärte, allerdings nach seiner Z lv e i s e e l e n t h e o r i e als Privatmann, daß er sich nlir dann an den Wahlen beteiligen könne, wenn »lari den Kampf gegen die nationale Opposition anfnähme. Wir raten also dem verehrten Sekretär, da Objektivität zu den vielen Dingen gehört, von denen er keine Ahnung hat, in Zukunft mit seinen Anivürfen etioas vorsichtiger zu sein. Wir konstatieren ferner, das; der Präsident der „Union" aufs 9lcuc öffentlich erklärt hat, daß „die Union als politischer Verein mit Kultus- angelegenheiten gar nichts zu tun hat; er iverde sich bemüßigt sehen, lvenn man seine 'Ansicht nicht teile, die Kabinetsfrage zu stellen, da er sonst nicht ivirken könnte". Wir iverden uns erlauben, bei passender und lnipassender Gelegenheit den Präsidenten gehorsamst an diese Erklärung zu erinnern. Sollst beschränkte sich die Tätigkeit der „Union" hauptsächlich ans die Aufdeckung von Ritnalmordmärchen. Das ist gewiß sehr löblich, aber doch sehr beschränkt. Demr wir müssen uns die Frage erlauben: Ist das Bestehen eines solchen wüsten 'Aberglaubens wirklich genug Existenzgrnnd für einen politischen Verein V Und was täte die „Union", wenn dieser Spuk endlich und endgiltig aris den Gehirnen der lieben Ehristen verschwände '? Sie wäre in der tödlichsten Verlegenheit; denn die zaubergewaltige Erscheinung ihres Herrn Sekretärs hätte dann keine Gelegenheit mehr, zll wirken, und so etwas, wie ein — Programm, besitzt die „Ullion" nicht. Das ist nach ihrer 'Meinung ein unnötiger Ballast.
Wer zahlt die Kosten? Wir hoben anläßlich der Interpellation B r z e z n o w s k y darauf bingewiesen, daß die Juden die Kosten des nationalen Kampfes zu zahlen haben.