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JÜDISCHE ZEITUNG

Nr 10

Angaben der Chewra Kadischa die Zahl der Ster­befälle in den letzte n Monaten dauernd zunimmt. Besorgniserregende Vorfälle haben sich in den letzten Wochen in Chedera ereignet. In vierzehn Tagen sind von 200 Jemeniten 14 gestorben.

Unsere Stellung ist angesichts der wach­senden Not eine besonders schwierige. Aus Ju­däa und Galiläa, aus den Städten und Kolonien, aus Arbeiter-, Handwerker- und Kolonistenkrei­sen wendet man sich an uns um Hilfe in der Not. Tatsächlich waren wir während der ganzen Krisis' in der glücklichen Lage, fast jederzeit mit wirksamer Hilfe eingreifen zu können. Was aber wird unser Beistand während der langen Krisis bis jetzt für einen Wert haben, wenn wir zuletzt doch nicht durchhalten können! Um die erwerbsfähige Schicht des produktiven Jischubs vor dem Untergang zu retten, brauchen wir einen Betrag von monatlich 30.000 Mark.

Es ist jedoch notwendig, in dieser schweren Zeit auch die Unterstützungsbedürftigen aus dem alten Jischüb, trotzdem diesen Kreisen auch die allgemeinen Chanukahquellen offenstehen, zu be­rücksichtigen. Und auch für diese Unterstützun­gen, die besonders in Jerusalem und in den an­deren größeren Städten notwendig sind, brau­chen wir einen Betrag, den vor monatlich auf 20.000 Mark schätzen.

Insgesamt veranschlagen war diese Ausga­

ben wie folgt:

1. Darlehen an private Arbeitgeber zur Be­

schäftigung von Arbeitern und für Notstands­arbeiten: Mark 20.000;

2. Darlehenskassen (zumeist für Handwer­ker): Mark 12.000;

3. Unterstützungen an Erwerbsunfähige:

Mark 15.000;

4. Unterstützungen an Soldaten und deren

Familien: Mark 3.000.

Zusammen Mark 50.000.

Diese Beiträge müssen unbedingt aufgebracht werden; mit 600.000Mark hoffen wir, wenn sich die Verhältnisse nicht weiter verschlechtern wer­den, für das Jahr 1916 denjenigen Teil der Be­völkerung, der jetzt mit dem Hunger kämpft, vor dem Verhungern zu retten.

Um die großen wirtschaftlichen Werte der jüdischen Siedlung aufrechtzuerhalten, sind aller­dings ganz andere Summen notwendig, die auf dem Wege von Anleihen aufgebracht werden müssen.

Um aber dem Hunger zu steuern, um 1 den Arbeiter und Handwerker durchzuhelfen, brau­chen wir unbedingt 50.000 Mark monatlich. Wir hoffen, daß dieser Bericht, der die gegenwärti­gen Verhältnisse darstellt, alle Freunde der pa­lästinensischen Judenheit zu werktätiger Hilfe veranlaßt

RnnOsdiaa.

Etwas über die Zensur.

In diesem Kriege haben wir es alle gelernt, mit so manchen Dingen vorlieb zu nehmen, deren Geschehenlassen in norma a Zeiten unmöglich wäre. Zu diesen gehört nicht in letzter Reihe die Zensur, der wir speziell in Oesterreich Nachsicht nicht nachrühmen können. Wie jedoch der Zensor un­ser Blatt, namentlich in der letzten Zeit, behandelt, kann nicht stillschweigend hingenommen werden. Es sind keine militärischen Nachrichten, auch nicht Auslassungen politischer Natur, die in den letzten Wochen dem Rotstifte zum Opfer fallen. Es wer­den konsequent Nachrichten unterdrückt, die gegen niemanden gerichtet sind und lediglich den Zweck verfolgen, die patriotische Haltung der ga 1 izischen Judenschaft während der Russeninvasion festzustellen. So geschah es mit einem ArtikelDie- Befreiung der gefangenen deutschen und österreichischen Sol­daten durch die galizischen Juden, den wir der Lieferung 45 des in Wien erscheinenden Jüdischen Archiv in der Nummer 49 derJüdi­schen Zeitung nachdrucken wollten und so widerfuhr es sogar der in der vorletzten Nummer unseres Blattes wörtlich zitierten Aeußerung des Ministers des Innern, des Prinzen Hohenlohe, einer Deputation des Lemberger jüdischen Rettungs­komitees gegenüber. Der Minister hob nämlich die gute Haltung der Juden in der schwierigsten Zeit des Russenetnfalles hervor und versprach, für ein dementsprechendes Verhalten seitens der Regierung Sorge zu tragen. Und an dieser Hervorhebung und an diesem Versprechen des Ministers nahm die löbliche Zensur Anstoß und unterdrückte sie gänzlich!

Dies sollen nicht bloß unsere Leser erfahren, die in dem diesbezüglichen Berichte die Antwort des Ministers vermißt haben, sondern auch die maßgebenden Stellen, denen wir die sämtlichen Fälle in geeigneter Weise zur Kenntnis bringen.

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Ostjuden gesucht!

Während jetzt in Deutschland von vielen arischen Seiten ein Grenzschluß gegen die Ostjuden verlangt wird und dem auch einige Juden (Dr. Marcusse, Dr. Willy Cohn) öffent­lich, viele heimlich zustimmen, mag es von Inter­esse sein, die Stimme eines deutschen Rabbiners, Dr. Gelles aus Lissa, zu hören, die anders als' die Menge ruft.

In einem Aufsatze, betiteltDie Ostjuden­frage vom Standpunkte der Religion, in dem Hamburger Assimilanten -OrganIsraeliti­sches Familienblatt führt er aus, daß in allen Ländern, wo den Juden die völlige Gleichberech­tigung eingeräumt wurde, ihr jüdisch-religiöses Leben erstarrt.Bei uns in Deutschland liegen die Verhältnisse relativ am besten, weil er­stensein politischer und gesellschaftlicher An­tisemitismus es bisher noch immer verstanden hat, jene politische Zufriedenheit unS vorzuenthalten, die das Erstarren ermöglicht. Zweitens waren die Bewohnerder östlichen Provinzen vor vier Generationen noch polnische Juden. Die geschichtliche und geographische Nähe der deutschen zu den östlichen Juden be­wirkte, daß bis zu den letzten Dezenien die Rabbiner und Kantoren aus dem Osten stamm­ten. Jetzt drohen in vielen kleineren Städtern die jüdischen Gemeinden ganz einzugehen. Aber- die Ostjuden stellen die Reserven, die wir zur Auffrischung des jüdisch-religiösen Lebens brau­chen.

Wäre es da nicht möglich, daß in allen Gemeinden, die weniger ,als fünfzig Familien, aber eine eigene Synagoge haben, zehn jüdische Handwerker- oder Arbeiterfamilien aus dem Osten angesiedelt werden könnten, denen man die Verpflichtung auflegt, daß sie und ihre Kin­der eine bestimmte Zeit, etwa zehn bis fünf­zehn Jahre, an diesem Orte wohnen müssen, um' das' deutsche Staatsbürgerrecht zu erhalten? Die an die Ansiedlungsrayons gewöhnten Ostjuden 1 würden diese Pflicht durchaus nicht als Zwang empfinden. So würden kleine Gemeinden neu aufleben. Sehr schnell und Beweise erhärten eS würden die Angesiedelten den langen Kaf­tan ablegen, deutsche Umgangsformen annehmen und das Hochdeutsch erlernen. Wer noch eine jüdische Ader hat, der darf den östlichen Glau­bensbruder nicht von sich stoßen, sonst gibt er durch sein Verhalten der russischen Regierung in ihrer Judenpolitik Recht. Das religiöse Leben der deutschen Juden kann nur erstarken durch das neu zugeführte Blut einer angemessenen An­zahl der östlichen Glaubensbrüder.

Man Sieht: viel Naivität aber guter Glaube.

Vom jüdisdi:0eulsihen Seelen: bonfliM.

AIS vor drei Jahren Moritz Goldsteins Auf-, satzVom deutsch-jüdischen Parnaß erschienen war, mußte sich jeder Zjonist sagen: Nicht in den tatsächlichen Konstatierungen des Aufsatzes, die uns nicht neu waren, liegt seine Bedeutung, auch nicht in seinen faktischen, Schlußforderun­gen, die uns vielfach nicht genügten. Vielmehr war er uns wichtig als Dokument und Ausdruck der Zerklüftung, die ein ehrlicher Deutschjude, der wohl kein Zionist im gebräuchlichen partei­politischen Sinne ist, in seiner Seele konstatiert. Und diese Zerklüftung war uns für die Zukunft mehr versprechend, als die programmatische Zu­gehörigkeit manches parteipolitischen Zionisten, der eben mit dem Trott von Programbi und Schekel seiner Seele voll genüge tut, sonst aber ein echt unjüdisches Leben führt, seine Kinder ungetrübt deutsch oder polnisch o. dgl. .erzieht und damit zufrieden ist.

Dann kami der Krieg. Alle Mauschel gaben der festen Zuversicht Ausdruck, jetzt habe die gemeinsame Not plle Unterschiede verwischt und ihrem versteckten Untertauchen unter diean­deren Mitbürger werde keine Hindernis im Wege stehen. Bald aber zeigte es sich, daß siel sich getäuscht. Der Antisemitismus ist mehr als nicht verschwunden und in arischen Kreisen be­ginnt man mehr als zuvor die Notwendigkeit der jüdisch-nationalen und judäopalästinensischen Idee einzusehen und ihre weltpolitische und welt­kulturelle Bedeutung richtig einzuschätzen. Das muß gerade auf die jüdische nichtzionistische Welt von großer Wirkung sein, die ja immer nur das preist, was dieAnderen loben.

Und als ein wertvolles Dokument der Fort­dauer und womöglich Verstärkung jener seeli­schen Zwiespältigkeit erscheint uns ein Aufsatz Wir Deutschjuden von Alfred Lemm, der im Februar-Heft der (von Eugen Diederichs her­ausgegebenen und redigierten)Tat veröffent­licht wurde, einer der führenden Zteitsdiriften des geistigen Deutschland und dem bedeutend-' sten Organ des neudeutschen Idealismus.

Wir können leider aus Raummangel den langen Aufsatz nicht einmal in genügenden Aus­zügen bringen; können ihn also unseren Lesern daher nur empfehlen auch 1 denjenigen, die

mit manchem nicht einverstanden sein und die darin gemachten Vorschläge als wenig ausführ­bar ansehen werden. Wir bringen nur einige cha­rakteristische Stellen.

. . . . So ist der Krieg ein Hebel, der den Lauf der Weltkräfte aufschneller stellt. Er treibt auch die Juden auf den Rand der Ent­scheidung ihres Problems. Vor einer neuen Land­karte werden die Juden vieler Länder mit irgend-* einem Entschluß stehen müssen. In Deutschland wuchs' mit dem Zurückgehen auf die ursprüng­lichen Schichten des Daseins ungeheuer das Na­tionalgefühl. Dieses wird sich gegen das Frem­de, unwillkürlich also auch gegen das Jüdische wenden. Die jüdische Seele, welche sich darauf beleidigt auf sich selbst zurückziehen wird, fin­det dort den Bodensatz, den das allgemeine Anschwellen des Nationalgefühls auch' im Juden gelassen hat, vor und wird ihn für eigene Zwek- ke verwenden Wollen. Hinzu kommt, das Deut­sche und Juden, im Krieg durcheinander gewor­fen und in nahe Berührung gekommen, sich- ih­rer Unterschiede bewußt worden sind. Das Ver­langen nach einem Vaterlande wird in den Ju­den wieder stärker werden . . .

Die Mehrzahl der deutschen Juden spricht und schreibt ein irgendwie anderes Deutsch nur der Seele spürbar als die Stammdeutschen. Das Nebeneinanderempfinden der Sprache Sim­mels und Lamprechts, Bubeiis und Wynekens,. oder (auch falsche Münzen haben Vergleichs­wert) Lissauers und Suderm'anns läßt zu dem' Ergebnis gelangen: Die Sprache der Männer jüdischer Abstammung erscheint saftiger, näher an die Dinge heranzugehen; die der Deutschen bei aller Plastik scheuer. Ja, es ist nicht ausgeschlossen, daß die schwere Erfülltheit, wie sie dem Stil vieler heutiger Juden eigen ist, die Folge eines fremden, nichtaufgegangenen Em­pfindungsrestes ist. ... In der Umgangssprache Scheinen, vom Inhalt abgesehen, Pointiertheit und Solidität die deutlichsten Gegensätze jüdischen und deutschen Sprechens. Daneben ist der Ton­fall schöpferisch: In Redeweisen wie:Vielleicht nimmst Du doch den Hut dort weg! oder Nu nein, er wird nicht usw. haben die Juden 1 deutsche Satzgefüge nach dem Sinn, wie sie ihn 1 brauchten, aber nicht fanden, gebogen. Der Aus­rufKunststück! Wird in einer deutschfremden Färbung, analog dem Tonfall der Jargonworte verwandt. Die Zuhilfenahme des! Jiddisch 1 er­weist, daß die Juden mit der andersartigen Kom­binierung des Deutsch zum Ausdruck ihres We­sens nicht auskommen . . .

Die Aufrichtung der Wände, der Rassengren­zen ist eine selbsttätige ökonomische Maßregel der Natur, um wirkend zu werden. Nationalität ist eine Not des Geistes. Dieser kann weder mit einem Sprunge über die Zeit, noch über den Raum direkt in dasMenschliche gelangen, Daher die merkwürdige Erscheinung, daß die Großen aller Nationalitäten sowohl durchaus aus 1 ihrer Zeit, als überzeitlich, sowohl volksi- bedingt, als überräumlich waren. Das Volkliche ist Boden für das Menschliche. . . .

Wie an der Sprache haben die Juden an der gesellschaftlichen Kultur für ihren näheren Um­kreis eine Umbiegung vollzogen. Doch gibt die­se keinen ausreichenden Ersatz für die Inkon­gruenz ihres Wesens mit der deutschen offiziel­len Aeußerung im rein staatlichen als auch im gesellschaftlichen Bezirk. Die Ungemäßheit aber hat zur Folge, daß sich das 1 volkliche Sein nicht ergießen kann; es stagniert, kann faulen, vielleicht zur Geldsucht werden oder sich' einen Zwangsausfluß wie im Kritischen suchen. Die Sehnsucht nach Uebereinstimmung des jüdischen Inhalts mit tier deutschen Kulturform läßt die Juden vergebliche Anstrengungen machen, die doch an ihrer Zusammensetzung scheitern müs­sen und sorgt unentwegt für jene Unbefriedigt- heit, welche noch' das einzige Gemeinsame bei den Juden Deutschlands ist. Das Deutsche, um­worben oder gemieden, angebetet oder verflucht, es wurde nie restlos unser. ,

Erkenntnis der Haltlosigkeit eines zweiteili­gen Zustandes ist Forderung, einzugreifen. Aus­gestaltung des einen und Abdrängung des ande­ren Teiles wäre der Weg. Aber unser So-Sein läßt sich in einem Leben nicht ändern. Läßt man einen Teil absterben, verkümmert das gan­ze.

Deshalb bringt der Zionismus den Leben­den keine Rettung. Sind wir keine Deutschem­pfindende wie die Volksdeutschen, so haben wir doch zu tief Deutsches eingeatmet, als daß wir es exstirpieren könnten, ohne uns die Luftwege zu beschädigen. Wir vergaßen nicht Jerusalem. Nun aber können wir Deutschland nicht ver­gessen. Wer gibt uns ein deutsches Heimatland? Palästina ist uns eine kostbare Erinnerung; kein Gebrauchsraum. Mit dem Zurückgewinnen unse­rer eigenen jüdischen Tradition fliegt uns die Einheit nicht wieder an.

Auch der Wille, deutsch zu werden, muß verzweifeln vor unserer Zusammensetzung, die ohne seelischen Verlust nicht zu sprengen ist. Wir können eine langsam angehäufte Tragik mit einem Ruck, dauere er auch ein Leben lang, nicht abschütteln. Wir selbst, die Lebenden,' sind verfahren und verflucht. Nur unsere Nach­kommen haben Aussicht auf Erlösung.