Nr. 10

/ÜDISCHE ZEITUNG

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Er zeigt -dann, warum dieblutliche Mi­schung keine Lösung des Problems bedeuten kann und fährt fort:

So müssen wir dafür sorgen, dab die jü­dischen Menschen, welche neugeboren werden, sich 1 nicht erst zu verstümmeln. brauchen,, wollen sie den Anfangsschritt zur Einheit tim. Die zionistische Idee kann unseren Kindern Befreii ung bringen. Dazu dürften wir ihnen von vorn­herein den Zwiespalt von Sein und Umgebung nicht mit ins Leben geben. Wer seine Kinder liebt, schützt sie vor den Leiden, die er selbst erfuhr. Die jüdischen Eltern in Deutschland müssen ihre Kinder vom Alter des geöffneten Bewußtseins, also vom fünften oder sechsten Lebensjahre an zur Erziehung nach Palästina geben. ...

Indem Wir erst die kommende Generation mit der Tat beauftragen, wälzen wir sie nicht bequem von uns ab. Das Eltemopfer fordert grausamsten Verlust an Glück; doch beraubt ,es nidit das eigene Sein, den Geist. Deshalb muß es ohne Besinnen gebracht werden. Außer

dieser Wahl blieb uns ja keine.Für die

Juden in Deutschland aber wird das Bestehen eines jüdischen Landes Halt sein für ihre Eigen­art, die sie lieben. Wie es den Deutsch-Amern kan er stärkt, daß es ein Deutschland gibt. De« deutschen Juden liegt bis zur künftigen Ein­heit ehrliche Zweiheit ob. Härte ziehen wir der. Verdeckung vor. Der Ton, in dem die deutschen- Juden eine undeutsche Sprache sprechen und schreiben, darf nicht sein:Wir Deutsche.. SondernWir Deutschjuden. Eine unserem Empfinden zuwiderlaufende, sich zwingende Nachahmung des rein-deutschen Sprachgebrauchs ist Heuchelei, die Profit bringen kann, aber see­lischen Schaden herraufführen muß.

Nach- und Hauptwort.

In dem halben Jahr zwischen der Nieder­schrift obiger Sätze und heute habe ich Gali- - zien und Polen gesehen und kann, hierdurch angeregt, neue, verbessernde Folgen aus der Grundüberzeugung ziehen. Die erste Lösung mag jedoch zum besseren Einsehen des Orga­nischen in der Herleitung stehen bleiben.

Die Erziehung deutsch-jüdiScher Kinder im- fernen Palästina in einer neuen Art trennt zu unvermittelt die Generationen voneinander, räumlich und sachlich', als daß eine etwas ver­sprechende Anzahl von Deutschjuden diesem Eingriff nachgäbe. (Es kann ja bei der Juden­frage keine Lösung schlechthin, sondern nur ei« bestmöglichesAus - der - Verlegenheit - führen gefordert werden.) Die östlichen Juden haben ungleich unzweifelhafter ihren Zusammenhang mit der Vergangenheit bewahrt. Diese könn­ten die Deutschjuden sich von ihnen wieder er­werben. Teile von Galizien oder Polen als vorläufigesMittelland für Palästina.

In einer Stadt, welche durch möglichst große Biegungsfähigkeit, aber auch Ungebeugt- heit des jüdischen Einvvohnermaterials als Bo­den geeignet erscheint, werden Erziehungs­heime für unsere Kinder errichtet. Sie haben gleichzeitig den Charakter einer Kolonie neu­jüdischen, europageschärften Geistes und ver­suchen, mit diesem ihre Umgebung möglichst zu durchdringen. Die östlichen und die westli­chen Juden würden einander hier das geben, was jeder von ihnen im' Laufe der Zieit verlor: Sie uns die zweifelsfreie Venvachsenheit mit dem Volksboden, wir ihnen die freie Mensch­lichkeit. ... i

So findet langsam und unter geringen Schmerzen die Trennung vom Deutschen und das Zurückweichen auf das Jüdische statt.. Ueber das Jüdisch - deutsche zum Hebräischen, Ueber Polen nach Palästina.

Damit endet der Aufsatz.

*

Bezeichnend ist, daß in denMitteilungen, des Vereines zur Abwehr des Antisemitismus, Dr. Spanier, ein Jude, in der Besprechung, dieses Aufsatzes schreibt:Wir nennen den Namen des Verfassers nicht, weil wir ihm nicht zum Herostratesruhm(l) verhelfen wollen. Es ist nur bedauerlich, dab hervorragende Zeitschriften wieDie Tat, solchen Elaboraten Aufnahme gewähren. <

Auch unser lieber, guter Professor Ludwig) Geiger schreibt:Wir müssen den entschieden­sten Protest gegen einen Artikel des Herrn Al­fred Lemm erheben, der in der ZeitschriftDie

Tat erschienen ist.Wir können nicht

umhin, unserem Erstaunen Ausdruck zu ge­ben, daß eine deutsche angesehene Ver­lagsbuchhandlung, Eugen Diederichs in Jena, der­artigen kindlichen Ausführungen ihre Spalten öffnet.

Der Aufsatz scheint also an den richtigen Stellen die richtige Wirkung zu haben. Wir freuen uns darüber.

Aron Markus.

Aus Frankfurt am Main kommt die Nach­richt, dab dort der bekannte hebräisch-deutsche Schriftsteller und Gelehrte Aron Marcus im 74. Lebensjahre gestorben ist. Geboren in Hamburg als Sohn eines galizischen Ehepaars, zog er früh nach Krakau, um hier Wurzel zu schlagen, da ihm der Boden des Westens verdorrt schien. Hier wandte er sich dem Studium des Chassi­dismus und der Kabbala zu, deren tiefer An­hänger und Verfechter er wurde. Er erwarb gro­ße Kenntnisse im rabbinischen Schrifttum aber auch in der Mathematik, Geschichts- und Sprach­wissenschaft und Philosophie. Von seinen zahl­reichen Werken und Broschüren mögen folgende genannt sein:Der Chassidismus (veröffent­licht unter dem PseudonymVerus),Hart - manns induktive Philosophie- im Judentum,Die moderne Entwicklungstheorie in der jüdischen Wissenschaft undEnzyklopädisches Wurzel - Wörterbuch des Hebräischen in Bibel, Mischi- nah, Gamarah und rabbinischer Literatur. Seine Hauptarbeit hat er einer merkwürdigen Psycho­logie der hebräischen Sprache gewidmet. Ihm war Sprache, war die hebräische Sprache, als die Sprache der Offenbarung, Schrift der Psyche. Dabei glaubte er, das hebräische Drei wurzel- system auf einfache Wortstämme mit zwei Radikalen reduzieren zu können, zu denen der dritte Radikal als Differenzierungszeichen hi«- zutritt. Das Werk, in dem er seine Gedanken! über die Sprache durchgeführt, nannte er zu Ehren eines sephardischen Gelehrten des elften Jahrhunderts, in dem er seinen Vorläufer sah', Barsilai. Uns Zionisten ist sein Andenken be­sonders wert, als eines der ersten Pioniere un­serer Bewegung lange vor Herzl. (Man findet auch sein Bild unter den Teilnehmern des ersten Baseler Kongresses.) Er suchte besonders ortho­doxe Kreise für sie durch Won und Schrift zu gewinnen.

Sein Name wird im Zionismus immer mit Dankbarkeit und Verehrung genannt werden.

Die NolstanOsahfiOii für die galizü sitien Juden.

DasJüdische Hilfskomitee in Lemberg, ersucht uns um Veröffentlichung folgender Zei­len, als Ergänzung .unserer Mitteilungen über die Notstandsaktion für die galizischen Juden in Nr. 4 unseres .Blattes: <

Wir erlauben uns festzustellen, daß die Notstandsaktion, welche von Seiten des Jüdische« Hilfskomitees in Galizien geleitet wird, zum großen, ja zum überwiegenden Teile aus den; Mitteln bestritten wird, welche die Israelitische! Allianz in Wien dem Jüdischen Hilfskomitee zur Verfügung stellt. Ohne die werktätige Mitarbeit und das verständnisvolle Interesse, welche diel Allianz der Aktion unseres Komitees entgegen­bringt, würden wir nicht in der Lage sein, den hohen Anforderungen, welche allseits an uns gestellt werden, auch in sehr geringem Maße Rechnung zu tragen.

Zum Schlüsse erlauben Wir uns zu bemer­ken, daß unser Komitee keine parteipolitische Organisation sei, innerhalb desselben sind alle politischen Richtungen und sozialen Stände des galizischen Judentums vertreten.

Im Anschlüsse daran möchten wir noch er­gänzend bemerken, daß ein großer Teil der sei­tens der Israelitischen Allianz für dieses Hilfs­werk bewilligten Mittel aus Sammlungen unserer Brüder in Amerika herrührt, was übrigens die Allianz in ihrem letzten Berichte selbst zu­gibt. In diesem Berichte heißt es wörtlich :Die­ses vielfach gegliederte Hilfswerk hat einen sehr bedeutenden Geldaufwand in Anspruch genom­men. Die bisher bewilligten Unterstützungen be­laufen sich auf zirka eine Million Kronen. Die von der Israelitischen Allianz und dem Verbände der Humanitätsvereine Bnai BTith eingeleite­ten Spendensammlungen einschließlich der Samm­lung derNeuen Freien Presse haben zwar ein sehr ansehnliches Ergebnis geliefert, doch hätte die Aktion sich nicht in solchem Maße entfalten können, wenn nicht unsere amerika­nischen Glaubensbrüder uns in besonders hoch­herziger Weise durch munifizente Zuwendungen, die wir durch das Relief-Committee in Newyork erhielten, zu Hilfe gekommen wären.

Zur Psychologie der Ostjuden.

Von Nachum Goldmann.

(Schluß.)

Was ihm sonst noch vorgeworfen wird, betrifft Eigenschaften, die von geringerer Bedeutung sind und in mehr zeitlichen und örtlichen Lebensverhält­nissen ihren Grund haben, mit deren Beseitigung sie schwinden werden: so vor allem seine Unsau­berkeit, die er mit allen unter so ungünstigen wirt-

.. Verlag

Wien, I. Wollzeile 6

Ab 1. April 1916

erscheint

DER JUDE

Eine Monatschrift Geleitet und herausgegeben von

Martin Buber

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K 14.

Das Einzelheft kostet K 1.40

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Wien, I. Wollzeile 6

schaftlichen Lebensbedingungen lebenden Men­schengruppen teilt, so auch seine im Vergleich zu den westeuropäischen Geschäftsprinzipien geringere Solidität, die ebenfalls auf Konto seiner Not, zum Teil aber auf das der russischen Verhältnisse zu setzen ist, da ja in Rußland im allgemeinen jene Prinzipien weniger geachtet werden. Alle diese Fehler sind, wie gesagt, mehr zufälliger Natur, als etwa tiefe Wesensqualitäten. Und zudem: all diesen Fehlem gegenüber, auf die so oft hingewiesen wird, vergesse man nie die großen Vorzüge des Ost­juden, seinen beispiellosen Familiensinn, seine An­spruchslosigkeit, seine unerhörte Zähigkeit, seinen hohen Idealismus, seine Kraft im Dulden und Leiden, seine Aufopferungsfähigkeit Mag das Aeu- ßere noch so abstoßend im ersten Momente sein, unter dieser Oberfläche steckt doch eine Seele, die voll idealen Schwunges und sittlicher Tiefe ist. Und daher ist es für jeden Kenner der Ostjuden- heit klar, daß sie ein Material darsiellt, aus dem für die mitteleuropäische Kulturgemeinschaft, der sie einbezogen werden soll, eine wertvolle Schicht herangebildet werden kann, wenn diese Einbezie­hung richtig eingeleitet und durchgefttnrt werden wird.

Damit komme ich zum praktisch wesentlichsten Zweck dieser Ausführungen, zu den Konsequenzen, die aus der psychologischen Erfassung der Ost­juden für die Gestaltung seiner Emanzipation zu ziehen sind. Denn dies hat uns diese Betrachtung wohl erwiesen, daß dieser Prozeß keinesfalls so einfach ist, wie es' viele wähnen, und er mit einer Verordnung und einem Gesetze keineswegs erledigt werden kann. Man hat in Deutschland bislang das ganze ostjüdische Problem fast ausschließlich un­ter rein politischen Gesichtspunkten betrachtet Man vergißt dabei aber, daß dieses Herausreißen der Ostjuden aus ihrer eigenen Ghettowelt auch ein psychologischer Vorgang von höchster Bedeu­tung ist Dies zu bedenken, dazu sollte nicht nur das sittliche Moment der Berücksichtigung der Ost- judenheit zwingen, sondern auch das eigene wohl­verstandene Interesse der Emanzipatoren. Eine Emanzipation, die die Ostjuden gewaltsam und zwangsweise ihrer eigenen Kultur entreißen, und in die ihnen fremde europäische Kultur unvermittelt hineinzwingen würde, würde sie seelisch entwur­zeln und damit korrumpieren. Es würden dann in ihr sich alle seelischen Fehler entwickeln, die die Emanzipation der westeuropäischen Juden vor hun­dert Jahren innerhalb derselben gezeitigt hat und die noch heute nicht überwunden sind. Wenn von nichtjüdischer Seite so viel über den negativen Einfluß der jüdischen Kulturtätigkeit in Westeuropa geklagt wird, so wird auch der objektiv urteilende Jude zugeben, daß in diesen Klagen ein Teil des Wahren und Berechtigten enthalten ist: aber er wird dann auch betonen müssen, daß die Schuld daran die westeuropäischen Völker trugen, die den Juden unvorbereitet aus seiner Ghettowelt heraus- nahmen und ihn in die europäische Kulturwelt verpflanzten; da war in den ersten Generationen der seelische und moralische Zusammenbruch vieler unvermeidlich. Diesen Fehler zum zweiten Male zu begehen, wäre unentschuldbar. Zudem: die Emanzipatoren der westeuropäischen Judenheit vor hundert Jahren konnten nur wenig Verständnis für die Eigeuart der Juden besitzen, weil sie als Kos­mopoliten und Gleichheitschwärmer in jedem Men­schen nur den Menschen erblickten. Heute ist die geistige Situation eine andere. Wir leben in der Zeit des höchstentwickelten Nationalgedankens, und