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nonn» Mit Beilage: „DER JÜDISCHE NATIONALFONDS« ■ ■■■■ I
JÜDISCHE
Beilage
Hl Erscheint wöchentlich. — Redaktion, Administration und Inseratenaufnahme: Wien, II.. Ztrkusgame Nr. 33. — Sprechstunden ■
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Nr. 22 Wien, Freitag, den 2. Juni 1916 — 1. Siwan 5676. , X* Jahrgang.
Zur VeßMgung.
Unser Gesinnungsgenosse Herr Dr. Leon Reich veröffentlicht in Nr. 74 der Wochenschrift „Pole n“, des Organs des Obersten Nationalkomitees, einen Aufsatz über „Das Freiheitsringen der Polen und die Juden“, der in mehrfacher Hinsicht unsere Aufmerksamkeit verdient. Zuvörderst ist Ja Herr Doktor Reich bekanntlich Mitglied des A. C. und Vizepräsident des Galizischen Zentralkomitees und seine Ausführungen in der so wichtigen und akuten Frage der jüdisch-polnischen Beziehungen sind daher bedeutungsvoll, trotz seiner ausdrücklichen Betonung- des absolut privaten Charakters dieser Meinungsäußerung. Sie sind es, aber auch im Hinblick darauf, daß sie im „Polen“ erschienen sind- Freilich läßt die Redaktion des „Polen“ diesem Artikel eine allzulange Bemerkung vorangehen, die neben der Entschuldigung wegen des Abdruckes desselben auch die unverkennbare Absicht verrät die Ansichten des Autors vollends zu entkräften. (Dabei legt ihm die Redaktion des „Polen“ ein von ihr nach dem Muster von „Zionisten deutscher Kultur“ neugeprägtes Epitheton „Zionist polnischer Kultur“ bei.) Dennoch ist und bleibt diese Kundgebung von berufener Seife und vor dem berufenen Forum, dazu in so würdiger wenn auch entschiedener Form, ein wertvolles Dokument.
Nach einer kurzen geschichtlichen Exkursion und nach einem Hinweis auf den Anteil der Juden in den Kämpfen für die Freiheit Polens, kommt Dr. Reich auf die Einrichtung der Zukunft zu sprechen, die nicht ohne weiters an jene Politik der „Einbürgerung der Juden* anknüpfen kann, wie sie von Czacki, Wielopolski, Smolka u. a. gedacht war. „Denn seither ist ein neues Faktum in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten, das bei der rechtlichen Regelung nicht übersehen und nicht vernachlässigt werden soll und werden kann. Dieses neue Faktum ist das Wiedererwachen des während Jahrhundertelanger Knechtschaft eingeschlummerten Jüdischen Nationalbewußtseins unter den großen- jüdischen Volksmassen überall und auch in Polen.“
Angesichts dieses neuen Faktums entsteht die Frage: Ob es nicht endlich an der Zeit wäre und auch im Interesse beider nationalen Gruppen liegen würde, die Methoden des Trotzes und der Anfeindung ein für allemal aufzugeben und an' deren Stelle zumindest „vertrauensvolle Besonnenheit und aufrichtiges Wohlwollen“ walten zu lassen ?
Der Autor verweist nun auf die in den letzten Jahren seitens der galizischen, Zionisten wiederholt unternommenen Versuche, eine Verständigung mit den Polen herbeizuführen und meint, daß vielleicht jetzt der geeignete Zeitpunkt se 5 , djgse infolge des Kriegsausbruches unterbrochenen Versuche der edlen Geister in beiden Lagern einer günstise n Lösung zuzuführen. Er stipuliert daher vom jüdischnationalen Gesichtspunkte die Umrisse der jüdischen Forderungen, die im folgenden gipfeln: .
„Was wir ehrlichkeitshalber gleich hier an erster Stelle als unser kostbarstes Gut bezeichnen, dessen wir um gar keine Konzession uns begeben würden, ist unser nationales Bewußtsein und dessen moralische Grundlage, die nationa 1 e Kultur. Zwecks' Vermeidung von Mißverständnissen wollen wir es gleichzeitig bemerken, daß wir nicht
den Ehrgeiz und den Willen, noch auch die Möglichkeit haben, diese Kultur hier in den Staaten der jüdischen Zerstreuung zur vollen Geltung zu bringen; aber andererseits werden wir niemals uns von ihr lossagen und auf ihre Fortentwicklung verzichten.
Unter den Erschütterungen des jetzigen Weltbrandes erleben wir — neben den Polen, deren Los wir ebenfalls, aber noch in gesteigertem Maße teilen — die furchtbarste Tragik. ...
Und trotz dieser Tragik stehen wir als Gesamtheit aufrecht. Retten, was im Gewitter der Geschichte zu retten ist Denken weiter an den Bau unserer nationalen Zukunft, als ob wir in unserer unversiegbaren Lebenskraft den Ruf unserer Geschichte hörten :Nildesperandum!
Dieser Ruf der Geschichte, der uns in den gefahrvollsten Momenten vor Verzweiflung rettete, ist es eben, was wir als das Phänomen der jüdischen Kultur bezeichnen. Es ist die Kontinuität unserer Leiden, aber auch unserer Lebenspotenz; es ist der unsichtbare Kitt unserer nationalen Zusammengehörigkeit, die Quelle unserer nationalen Eigenart, die Triebkraft unserer nationalen Strömung. -
Was'wir von der polnischen Nation verlangen, ist, daß sie uns die Berechtigung, im Sinne unserer eigenen Kultur zu wirken und uns danach einzurichten, nicht absprechen soll. Niemals werden wir, wie bereits erwähnt, hier national-kulturell uns ganz ausleben können. Diese Möglichkeit glauben wir nur im historischen Lande des Judentums, in Palästina, finden zu können, und nur dort haben wir den Ehrgeiz, der Stärkung unseres nationalen Geistes dienende Kulturstätten, wie Hochschulen, Nationalmuseen und dergleichen zu schaffen. Allein wogegen wir uns hier, in allen Ländern der jüdischen Zerstreuung, mit aller Macht auflehnen müssen, ist, daß wir unser nationales „Ich* verleugnen und die eigene Freiheit am Freiheitsaltare anderer Nationen opfern sollen.
Im Rahmen jedoch unserer eigenen Ideale können wir, ohne ihnen Abbruch zu tun, auch der Kultur, der Freiheitsbewegung und späterhin auch den staatlichen Einrichtungen Polens im Rahmen der österreichisch-ungarischen Monarchie uns nützlich erweisen.
Ist doch unstreitig ein großes Verdienst des Zionismus gegenüber dem Lande und somit auch gegenüber dem Polentum, daß er die Juden, bis dahin demütige und verachtete Parias, gelehrt hat, als vollberechtigte Bürger den Kopf zu heben, den Rücken zu strecken und mit Stolz nnd Seibstachtung am Wohle des Landes nach bestem Wissen und Gewissen mitzuarbeiten. ...
Freilich könnten wir uns niemals und um keinen Preis dazu hergeben, als Handlanger einer Nationalität zur Unterdrückung einer anderen zu dienen, dies um so weniger, als doch übrigens die Neutralität an und für sich schon zumeist einen Verzicht auf die Ausübung der gewährleisteten Bürgerrechte zur Folge hat. (Etwas unverständlich. — Red. „Jüd. Ztg.“) Allein es wäre dies eben, wie alle sonstigen politisch-taktischen Maßregeln, als Teil unserer Konzessionen zu betrachten, welche auf Grand von Leistungen und Gegenleistungen unser Zusammenleben oder zumindest Beieinanderleben erträglich machen sollen.
Leistungen und Gegenleistungen . . . Denn die Polen müßten auch ihrerseits zur absolut vollwertigen Behandlung der Juden als gleichgestellte Bürger sich emporschwingen. (Hier folgt eine konfiszierte Stelle. Red. „Jüd. Ztg.*) Sie müßten — neben Anerkennung unserer oberwähnten national-kulturellen Rechte — uns selbst, also dem nationalen Judentum, in allen unseren, sei es politisch aktuellen, sei es ideellen Kämpfen mit anderen jüdischen Parteien, wenn nicht Förderung, so doch wenigstens eine ebensolche Neutralität, wie sie sie von uns erheischen, entgegenbringen.
Und demgemäß mögen die Polen auch unsere Jugenderziehung und die Organisierung unserer Schulen — uns selbst’ überlassen.
Wir sind uns der Tragweite dieses komplizierten Problems vollauf bewußt Allein wie immer auch die jüdische Schul- unc. Sprachenfrage vom jüdischen Volke gelöst werden sollte, das eine glauben wir als Ansicht weiter Kreise des nationalen Judentums äußern zu dürfen, daß in den jüdischen Schulen der polnischen Sprache und Literatur, Geographie und Geschichte jener Platz eingeräumt werden müßte, an welchem es der Jugend unbedingt möglich sein wird, sich diese Lehrgegenstände ganz zu eigen zu machen, damit sie vor allem die Größe der polnischen Nation, in deren Mitte sie heranwächst, richtig zu schätzen wisse, und damit sie auch im praktischen Leben wegen Mangels notwendiger Kenntnisse nicht zurflckgesetzt zu werden Gefahr laufe. Alles andere, insbesondere die Beantwortung der Frage: „Jidisch oder Hebräisch?“ — welch letztere Sprache wir programmatisch seit jeher als die nationale Sprache des Judentums und der jüdischen Zukunft betrachten — müßte uns allein fiberlassen bleiben. Sie dürfte ja übrigens für die Polen auch völlig belanglos sein, insoferne wir bloß, treu unseren Grundsätzen, Garantie bieten, daß wir das lidische keinesfalls als Instrument zur Germanisierang an- sehen und auch gar keinen Anlaß haben, für Tendenzen, deren manche Wortführer sich heute bereits vom Ostjudentum durch Grenzsperre abschließen möchten, Lanzen zu brechen und uns zu begeistern.
In der Tat sind dies alles Umrisse, die erst durch weitere Erwägungen und Verhandlungen, und — was wichtiger — durch gegenseitiges Vertrauen volle Gestalt annehmen könnten und hoffentlich werden. Allein schon jetzt sollten die maßgebenden politischen Faktoren die Gelegenheit ergreifen, um anläßlich der Entschädigungsaktion in Galizien, in- söfeme die Heilung der klaffenden Kriegswunden von ihnen abhängig bleibt, durch gerechte Behandlung der unter den Juden heimgesuchten Opfer 4 fas Weh von Hunderttausenden zu lindern, und auf diese Weise ihrem guten Willen zum Anstreben einer friedlicheren Periode den ersten Ausdruck zu geben ...
. Staatliche Einrichtungen und nationale Freiheit sollen den Polen als Siegespreis aus diesem Weltkampfe zufallen ; was wir, die die Geschichte Bescheidenheit gelehrt hat, aus diesem Kriegschaos retten müssen, ist viel weniger: die politische Gerechtigkeit und nationale Emanzipation.“ ’
Soweit Dr. Reich.
Werden aber die Polen uns diesen bescheidenen mit so vielen Blutopfem erkauften Preis gönnen?