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20. flugufl 1908.
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40. Jahrgang. B£sa Sranhfurf a. M.. Sen
25. Nw 5668
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Die bayrische Orthodoxie vor einer wichtigen Entscheidung.
Die Geschichte ist bekanntlich dazu da, um nichts aus ihr zu lernen. Die Neologie des deutschen Judentums kann sich alle paar Jahre den Luxus gestatten, die Richtigkeit dieser These an ein paar besonders in die Auaen springenden Fällen vor aller Welt zu Erweisen, und mit Recht hat die Berliner „Jüdische Presse" ihrem Leitartikel in Nr. 20, der einer Betrachtung über „die Vereinigung für das liberale Judentum in Deutschland" gewidmet war, die Überschrift: „Nichts gelernt und nichts vergessen" vorangestellt. In Nürnberg hat jüngst eine große Propagandaversammlung der Liberalen Bereinigung stattgefunden, in München soll im September eine solche Nachfolgen. Wir dürfen von der Energie und Begeisterung der Nürnberger und Münchner Neologen erwarten und erhoffen^ daß sie es nicht bei leeren Reden bewenden lasten, sondern sofort auch daran gehen, praktische liberale Gemeindepolitik im Sinne des Berliner Programmes vom 3. Mai zu betätigen, und können den Herren Veranstaltern dieser Versammlungen in Erinnerung an die Erfolge, die der religiöse Liberalismus vor 30 und 40 Jahren mit ähnlichen Demonstrationen erzielt hat, nur zurufen: Vivant seqnentes!
Weniger Befriedigung empfinden wir aber offengestanden darüber, wenn auch innerhalb der bayrischen Orthodoxie den eindringlichen Lehren und Mahnungen der Geschichte keine genügende Beachtung und Würdigung geschenkt wird. Eine solche Situation ist bedenklich nahegerückt, und es wäre Selbsttäuschung, wollten wir die Äugen vor der Gefahr verschließen, daß einstußreiche Kreise der bayrischen Orthodoxie in der besten und wohlmeinendsten Absicht, unserer gemeinsamen heiligen Sache zu dienen, drauf und dran sind, durch ihre Stellungnahme zu der Frage der Revision des Judenediktes den schweren politischen Fehler, der vor 50 Jahren, als ähnliche Bestrebungen im Gange waren, gemacht wurde, zu erneuern und die bevorstehende Aenderung der Gesetzgebung zu Hintert x eiben. Das bleibt eine Gefahr, obgleich nach den Lanb- tagsverhandlungen vom 3. d. M. die Frage der Revision sicherlich nicht so leicht mehr ungelöst tjtzn der Bildstäche verschwinden kann. Wir dürfen wohl vöraussetzen, daß jenen Ge- tttsföe letzt vassive Resistenz
gegenüber der Revision üben, die nun etwa ein halbes Jahrhundert zurückliegenden langwierigen und wechselvollen Phasen und Beratungen über die nämliche Materie, die Heimberger in seiner vielzitierten Monographie so überaus anschaulich und fast dramatisch schildert, wohlbekannt sind. Wir sind auch die Letzten, die es bestreiten, daß die Ministerialentschließung vom Jahre 1863 in gewissem beschränktem Sinne ihre Aufgabe, vorzusorgen, „daß keinem Israeliten in Bayern, welcher kultusgemäß leben will, die Möglichkeit hiezu entzogen wird," erfüllt hat, und es soll auch den großen Männern innerhalb des bayrischen Judentums, die sich um den Erlaß dieser Entschließung hervorragend verdient gemacht haben, der ihnen zukommende Zoll der Dankbarkeit in keiner Weise verkürzt werden. Aber wir möchten an alle Kenner der einschlägigen Verhältnisse und der Geschichte der bayrischen Großgemeinden in den letzten 40 Jahren nur die eine Frage richten: Welche große und blühende orthodoxe Mustergemeinden würden zweifelsohne heute in München, Nürnberg und Fürth bestehen, wenn .schon damals die Gesetzgebungsoperation auf Tod und Leben durchgeführt und durch Fixierung der Trennungsmöglichkeit klare Verhältnisse zwischen den beiden Richtungen geschaffen worden wären?
Anstatt daß die Orthodoxie in München und Nürnberg jahrzehntelang auf Grund dieser veralteten gesetzlichen Bestimmungen künstlich niedergehalten wurde, weil jedem vom Lande zuziehenden Glaubensgenossen die „Rechtlosigkeit" der orthodoxen „Betsäle" vor Augen geführt werden konnte, hätten, wenn der Gesetzgeber an Stelle der „interpretierenden" Ministerialentschließung Wandel geschaffen hätte, vielleicht schon damals beide Richtungen freie Luft und Sonne zur ungestörten Entwicklung ihrer Kräfte erhalten, und all die Kämpfe und Konfiiktsperioden der letzten Jahre wären uns und dem Ministerium erspart geblieben.
Nach 45 jähriger Pause, und nachdem sich auch in unserem bayrischen Ministerium die Ueber- zeugung Bahn gebrochen hat, daß Reibungsflächen, wie die nun einmal tatsächlich innerhalb der deutschen Judenheit bestehenden, mit ^interpretierenden" Ministerialentschließungen, deren juristische Basis sehr, sehr problematischer Natur ist, nicht aus der Welt geschafft werden können, trat nun am 28. Mai an die gesamte bayrische Juden- heit von neuem die Aufgabe heran, die Grundzüge für eine Neuregelung der gesetzlichen Verhältnisse der bayrischen KuktUsgemeinden in ^gemeinsamer Arbeit yorbereiten zu helfen. Wie
iäf mir in der damaligen Konferenz in meinem einleitenden Referat auseinandemusetzen erlaubte, kennt man in unseren leitenden Regierungskreisen ganz genau den Umfang der prinzipiellen und dogmatischen Gegensätze, die Orthodoxie und Neologie von einander trennen,' man weiß ferner, daß sich bei der Reform der Gesetzgebung Dissonanzen betreffs der Abgrenzung der Gewalten und Kompetenzen zwischen den Rabbinern und den Gemeindeverwaltungen ergeben werden. Aber ebenso klar war man sich auch, daß in diesen, vorbereitenden Stadien der Gesetzgebung keinerlei Majorisierung der einen religösen Richtung durch die andere, des einen gemeindlichen Organs durch das andere stattfinden känne. Es ist mit Sicherheit zu erwarten, daß bei einer Reihe von wichtigen Punkten, in welchen die alte Gesetzgebung völlig versagt, Einstimmigkeit aller Kommiffwnsmil- glieder erzielt wird/ in allen anderen Fragen, vor Allem in jenen, die das religiöse Gebiet tangieren, sollte die Orthodoxie ihre Vorschläge, die Neologie die ihrigen in getrennten Fassungen dem Ministerium unterbreiten. Aus diesem Grunde war und ist es irrelevant, ob und in welcher Stärke die Orthodoxie in der vorbereitenden Kommission vertreten sein wird. Ist dieselbe nicht vertreten — tant mieux; dann warten wir die Verlautbarung des Entwurfs unserer Gegner in der Oeffentlichkeit ab und unterbreiten dann unsere Postulate in einem gesonderten Entwurf der bayrischen Gtaatsregierung, die sich auf Grund der beigeschlossenen Motivenberichte schon schlüssig machen wird, welche Normen ihr als die geeigneten Kautelen zur Hintanhaltung künftiger Konflikte erscheinen. Wenn überhaupt jemals, so kann die bayrische Orthodoxie im gegenwärtigen Zeitpunkt bei der derzeitigen politischen Konstellation in Bayern unbedenklich das Wag- niß riskieren, blind und ohne Besinnen in den Abgrund der Revision hineinzuspringen, während sie andererseits, wofern sie aus kleinlichen oder lokalen Interessen den jetzigen Moment verpaßt, von dem Vorwnrf nicht fteizusprechen sein wird, daß sie jene Situation nicht zn nützen verstand, in welcher ihr alle Garantien dafür geboten wären, daß der Gesetzgeber jedwede Bedrängnis und Verkümmerung unserer Rechte für alle Zukunft hintanhalten werde.
Daß der Landesverein der bayrischen Kultus- gemein den kompetent ist, eine Kommission zm5 Vorbereitung dieser Materie zu wählen, steht außer Frage, da kein anderes Organ in der bayrischen Judenheit vorhanden ist, in welchem