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nach Minden. In der Audienz beim Regierungspräsidenten Dr. Kruse erwirkte unser Vertreter, daß von der scharfen Durchführung der Schächtverbote abgesehen würde und nur bis zum Austrag, ob die Polizeiverordnung juristisch gerechtfertigt sei, Polizeistrafen verhängt würden. Gleichzeitig erklärte der Regierungspräsident, daß er an eine allgemeine Einführung, des Schächtverbots insbesondere nach Anhörung des Bortrages nicht denke. Ein auf seinen Wunsch verfaßtes Memorandum über die sachliche Seite der Frage des Schächtens ging bereits am 8. Juli nebst obigen Gutachten an ihn ab.
3) Schließlich hatten wir noch in dieser Angelegenheit am 8. Juli beim Oberpräsidium in Münster eine Rücksprache, die nach verschiedenen Gesichtspunkten hin uns Anlaß geben wird, in unserem demnächstigen Jahresbericht auf die religiöse Seite der Schächtfrage hin nach Erledigung der Angelegenheit zurückzukommen. Auf Wunsch übersan ten wir eine ausführlichere Denkschrift, die allen einschlägigen Bedenken gerecht zu werden sucht.
Ohne den parallel laufenden Schritten ihren Wert irgendwie bestreiten zu wollen, glauben wir, die religiösen Interessen der ganzen Provinz auch in dieser Frage der Verteidigung dieses göttlichen Gebots energisch und wirksam vertreten zu haben.
Posen, 17. Aug. Gestern fand hier die zweite Quartalssitzung der „Vereinigung von Rabbinern der Provinz Posen zur Wahrung des überlieferten Judentums" statt. Erschienen waren: der Ehrenvorsitzende Herr Oberrabbiner Dr. Fei lchen selb-Posen, sowie die Herren Rabbiner Dr. Bloch-Posen, Blum-Posen, C ohn-Rawitsch, Dünner-Rogasen, Fried- mann-Graetz, Grünthal-Pinne, Lewin- Wreschen, Nobel - Filehne, Silberberg- Schrimm, Theodor-Bojanowo, Weil-Czar- nikau, Wreschner-Samter. Nach längerer Diskussion wurden die in der ersten Sitzung vorberatenen Statuten mit geringen Aenderungen in der vom Vorstand vorgeschlagenen Fassung angenommen. Den reichhaltigen wissenschaftlichen Teil der Tagesordnung eröffnete Dr. Silberberg mit einem Referat über „die Behandlung des jüdischen Religionsunterrichtes in den höheren Klassen des Gymnasiums", in welchem er vorzüglich die Verhältnisse in der Provinz Posen berücksichtigte. Da bedauerlicherweise die Regierung dem jüdischen Religionsunterricht die volle Gleichberechtigung mit dem christlichen versage, müsse der Lehrer versuchen, privatim auf die Schüler einzuwirken und im Gymnasium nur dem Umfange nach das Allgemeine und dem Inhalt nach das Wichtigste burchzunehmen, damit den Schülern nach Möglichkeit eine Kenntnis des Lehrinhaltes und der Geschichte des Judentums vermittelt würde. Sodann hielt Dr. Cohn einen hälachischen Vortrag über die weitgehende nrsryn th nnh npy *tod, in dem er sich über die Quelle, den Grund, die einzelnen Bestimmungen und die Ausnahmen dieser Regel verbreitete. Den interessantesten und aktuellsten Teil der Sitzung bildete ein Vortrag über „Neue Medikamente und ihre rituelle Zulässigkeit", den Herr Dr. med. Calv ary-Posen in liebenswürdigster Weise übernommen hatte. Unter Vorzeigung einer ganzen Reihe von Präparaten ftihrte Dr. Calvary, ausgehend von einer etwa gleichnamigen Broschüre von Dr. Münz-Kissingen, aus, daß die sog? Nährpräparate teils zulässig seien, teils aber ersetzt werden könnten. Für die modernen Heilmittel, die sog. Organpräparate, die auch schon in der Mischnah (Joma VIII, 6) angedeutet wären, gäbe es jedoch keinen zulässigen Ersatz; da sie aber wohl nur angewandt würden in Fällen, wo die Möglichkeit einer Lebensgefahr vorhanden ist, dürften sie wohl benutzt werden. An jeden der Borträge schloß sich eine rege Diskussion an, sowie auch zum Schluß in freier Aussprache verschiedene Fragen aus der Praxis, wie oie Behandlung des iws Fleisches in Kühlhallen, angeschnitten und erörtert wurden. Gegen 77« Uhr
Der Israelin
nachmittags schloß die vormittags 107, Uhr begonnene mannigfach anregende und belehrende Versammlung.
Oestewotch.
Lemberg, 10. August. Am Vorabend zum Tischahbeab fand in Glogow aus Anlaß des Jubiläums des Papstes ein Fest der christlichen Bevölkerung statt. Das Fest, welches den ganzen Tag gedauert hatte, schloß am Abend mit einem prozessionsartigen Demonstrationsumzug durch die Stadt. Die Veranstalter des Umzuges forderten nun, daß sämtliche Bewohner die Fenster illuminieren, weil sie sonst keine Garantie für etwaige Ausschreitungen übernehmen könnten. Es war nur selbstverständlich, daß ein großer Teil der jüdischen Bewohner mit Rücksicht auf den Tischahbeab ihre Fenster um so weniger illuminierten, als es sich ja um eine rein katholische Veranstaltung gehandelt hatte. Die Demonstranten zogen lärmend durch die Straßen und zertrümmerten alle Fenster derjenigen Häuser, in denen Juden wohnen. Merkwürdigerweise wurden diejenigen Häuser, in denen Christen wohnen verschont, auch wenn sie nicht beleuchtet waren. Zum Glücke gingen die Juden nicht aus ihrer Reserve heraus, sonst wäre es sicher zu Blutvergießen gekommen. Am anderen Morgen nach den „Kinoth" begaben sich die geschädigten Juden zum Bürgermeister und forderten von ihm den Ersatz des angerichteten Schadens, da sie sonst die gerichtlichen Schritte gegen ihn einteiten müßten, weil er die Demonstration nicht vereitelt habe. Der Bürgermeister scheint denn doch die Konsequenzen eines gerichtlichen Schrittes gefürchtet zu haben, denn noch am selben Tage wurde der gesamte Schaden wieder gut gemacht. Auf wessen Kosten dies geschehen, darüber schweigt die Geschichte.
Uttklanv. *
^ Poltawa, 10. August. Auch hier fand dieser Tage eine Rabbinerversammlung statt, die im Großen und Ganzen nicht viel Positives ergab. Die Beschlüsse und Resolutionen bewegten sich zumeist auf dem gleichen Gebiete, wie die in Kiew und Cherson und betrafen die jüdischen Familienregister. Bon einigen Kommen Wünschen, die Gründung eines Rabbinerseminars, einer Lehrerbildungsanstalt, die staatliche Anerkennung der Gemeinden u. dgl. betreffend, abgesehen, brachte die Versammlung nichts Besonderes. Neu war die entgegen dem Beschlüsse der anderen Rabbinerkonferenzen gefaßte Resolution, die Fleischsteuer, obzwar sie von der armen Bevölkerung als ein Druck empfunden wird, nicht abzuschaffen, sondern dahin zu arbeiten, daß die Geloer aus dieser Steuer ihre rechte Verwendung finden. Die rechte Verwendung wird aber unter den obwaltenden Umständen viel schwerer zu erzielen sein, als die gänzliche Abschaffung des Fleischsteuerzwanges. Uno so bleibt wohl alles beim Alten.
Warschau, 11. August. Für die hiesigen Handelsschulen, deren Beendigung gewisse Vorrechte gewährtest die Anzahl der jüdischen Schüler auf 40 v. H. festgesetzt, in Wirklichkeit sind ihrer dort mehr. In den letzten drei Jahren, während derer die Polen die russischen Schulen boykottieren, ist ihre Zahl auf 75 bis 80 v. H. gestiegen. Nunmehr ist ein ministerieller Befehl ergangen, wonach sich die Schulen streng an die gesetzlich vorgeschriebene Norm zu holten haben. Die Ursache des Erlasses ist die, daß die Juden, die diese Schule beendet haben, damit das Anrecht erwerben, in die Universitäten und polytechnischen Schulen aufgenommen zu werden. Das eben will das Ministerium verhindern.
Der Staatsanwalt in Grodno hat sich an den Justizminister mit dem Antrag gewandt, die Rechtsanwälte Skorjatin und Jllerson, die im Progromprozeffe von Bialvstok Verteidiger der Juden waren, vor Gericht zu stellen, well sie in ihren Verteidigungsreden die bestehende Staatsordnung kritisiert und die Behörden der Ber-
__ 20. August 1908.
anstaltung des Progroms beschuldigt hätten. Es wird behauptet, daß der Justizminister den Antrag angenommen und bereits eine Untersuchung angeordnet habe. Voraussichtlich wird den beiden Anwälten die weitere Praxis untersagt werden.
Bialystok, 6. August. In den großen Webereien von Bialystok, in denen bis jetzt fast ausschließlich Handarbeit herrschte und in denen neben den christlichen Arbeitern eine sehr große Zahl von jüdischen Arbeitern beschäftigt war, wurde bisher stets die ganze Woche hindurch gearbeitet. Die Juden feierten am Sonnabend, die Christen am Sonntag. Seit der Einführung der mechanischen Webftühle und des Dampfbetriebes wurde nun aus rein ökonomischen Gründen ein einheitlicher Ruhetag und zwar auf den Sonntag festgelegt. Auf diese Weise müssen jetzt die Juden zwei Tage in der Woche feiern, was ihre wirtschaftliche Lage natürlich außerordentlich verschlechtert. Deswegen haben nun Abgeordnete der jüdischen Arbeiter schon oft bei den jüdischen Fabrikanten, an deren jüdisches Volksgefühl sie appellierten, gegen die neue Ordnung Einspruch erhoben, aber erst ganz vor kurzem ist es ihnen gelungen, einige der jüdischen Großindustriellen zu bewegen, ihre Wünsche zu berücksichtigen. Man hofft, Haß auch die übrigen nunmehr diesem Beispiel folgen werden, so daß die jüdischen Arbeiter in Zukunft wie früher am Sonntag arbeiten werden und so nur einen Ruhetag in der Woche zu halten brauchen.
Kiew, 10. August. Große Aufregung herrscht in der jüdischen Gemeinde in Berdischew, infolge der Verhaftung des dortigen Kronrabbiners Hellman. Ein unglücklicher Zufall wollte es, daß der Rabbiner einen dortigen Pristav in einer Amtsangelegenheit besucht hatte, kurz vor einem Attentate, dem der Pristav zum Opfer gefallen ist. Sofort wurde der Rabbiner wegen Verdacht der Mithilfe oder Anstiftung zum Morde des Polizeibeamten verhaftet, wurde aber, als sich seine Unschuld klar ergab, wieder freigelassen. Die „echten Russell" wollten aber diese günstige Gelegenheit, der Judenheit eins anzuhängen, sich nicht entgehen lassen, und rühren nicht eher, bis ihnen gelang, die abermalige Verhaftung des Rabbiners zu veranlassen.
Ueber die lautere Kampfesweise des Schwarzen Verbandes ist schon so manches lächerliche und zugleich traurige Koriofum in die Oeffentlichkeit gelangt. Es übertrifft aber beinahe alles bisher Dagewesene, wenn man vernimmt, daß in vielen Städten die Juden von der Polizei durch allerlei Chikanen geradezu dazu gezwungen werden, die antisemitischen Zeitungen, die offiziellen Organe des Verbandes zu halten und sie zu unterstützen. So werden in Tschernigew keine Pässe oder sonstige Dokumente von der Polizei an die Juden ausgehändigt, die nicht auf das dort erscheinende blutrünstige vom Verbände geleitete Hetzblättchen abonniert sind.
Genf, 10. Aug. Die durch das Ableben Prof. Wertheimers vakant gewordene Stelle eines Grand-Rabbiners wird sehr stark umworben. Meldungen liefen aus allen Teilen Frankreichs an. Bon den vielen Kandidaten kommen bis jetzt zwei in Betracht, die Herren Rabbiner Wolf und Ernst G nsburger. Ersterer fungirt seit 1893 als Rabbiner in S e d a n. Letzterer ist Direktor einer Kon- sistorialschule in Paris. Beide Herren vertreten die Reformrichtung, worauf die Gemeinde, die leider nicht im entferntesten an eine Sanierung ihrer im Argen liegenden religösen Institutionen denkt und unter allen Umständen am alten Kurse festhalten will, in erster Reihe sieht. Nach einer Probeleistung beider Kandidaten wird die Generalversammlung weitere Beschlüsse betreffs weiterer Berufungen, eventuell der Wahlvornahme fassen.
Türket.
Konstantinopel, 7. August. Die Vorgänge bei dem Rücktritte des Chacham-Baschi werden von den der Alliance nahestehenven