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Weißt Du, das ist doch die Schwiegertochter der einst so vor- nehmen Noemie —, ja, ja, das hätte die sich auch nicht träumen lassen. Das alles merkte Boas. Dann trat er in den Kreis der Schnitter und grüßte sie: Gott mit Euch! Da mochte wohl der eine oder andere einen leisen Unterton der mahnenden Frage mit vernommen haben: Ist Gott mit Euch, wenn Ihr als Mensch zu Menschen tretet, als Mensch von anderen Menschen redet? So ward der Gruß zur Lehre. Und die Schnitter dankten für die erhaltene Lehre und grüßten: Dich segne Gott. Die an- spruchslose, schlichte Worthandlung des Grußaustausches war zu einem Heiligtum der Mahnung und der Segnung geworden und wurde zum Minhag in Israel, zum beglückenden Alltags- gebrauch.
Merkwürdig, es kirnen Zeiten, in denen man dieses Ge- brauches lachte und Rabbi Jehuda Hanassi hielt es für not- wendig, seiner Zeit, die ob des Minhag gespöttelt haben !noch- te, entgegenzurufen: Denke nicht verächtlich und klein von Deiner Mutter, wenn die Runzeln des Alters sie bedecken. Man hat so viel darüber * nach gedacht, aus welchem Grunde dieses Buch Ruth am Offenbarungsfeste gelesen wird. Es dürfte er- wägenswert sein, daß hier sich uns der große und weite Weg des Einflusses der Religion von der nur einmal erreichten Höhe des Sinai bis in die kleinsten Lebensäußerungen hinein erschließt. Die Kanäle dieses Stromes — sie sind im Minhag beschlossen, der seinerseits dankbar, wie auch im Gruße Boas’, immer wieder zur Gottbejahung zurückführt.
Alle Normen des Religionsgebrauches vom Gruß knüpfen an diese Episode an; es gibt deren eine Fülle. Nur einer soll hier Erwähnung geschehen, weil sie uns die Bedeutung des Erstlings- festes so recht deutlich zum Bewußtsein bringt.
Der Gruß ist auch oft ein Ausdruck der Ehrfurcht; man ist bekanntlich verpflichtet, bei dem Gruß, den man einem Tal- mid-chochom bietet, sich zu erheben. Handwerker jedoch, in Ausübung ihres Berufes, Arbeiter bei ihrer Pflichterfüllung sind dazu nicht verpflichtet. Nur in 3 Fällen sind auch Arbeiter und Handwerker gehalten, sich grüßend zu erheben. Dann zu- nächst, wenn ein Kind vorüber getragen wird, das in den Bund Abrahams auf genommen werden soll; es ist der Gruß der reli- giösen Gesamtheit, die ein neues Glied in ihrer Mitte aufnimmt, ein Gruß, dem sich keiner entziehen darf. Gemeinschaftserkennt- nis formt diesen Gruß.