Monatsausgabe Januar 1-31
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Blätter für öeutfektum und Judentum.
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Allgemeine Zeifung des Judentums
itMM und WilMiiis
Von Dr. Müller-Claudius
Wir haben uns an dieser Stelle über die „isolierende" und die ^einende" Geschichte mrter- halten, und wir sahen, dasz diese einende Geschichte eine Aufgabe ist, die noch der willigen Herzen und der organisierenden Köpfe wartet, die das spezifisch jüdische Geschichtsmaterinl bereits gefunden hat. Kundiger und gesammelter Arbeit wartet die Aufgabe, die geschichtlichen Quellen reden zu lassen und ihr Zeugnis ins öffentliche Bewußtsein 31t leiten, das Zeugnis nämlich, daß die Inden von Anbeginn an im deutschen Kultur-, Wirtschafts- und Arbeitskreis Mitbauende und Mitschaffende, nicht selten Wegbahnende gewesen sind. Eine große Geschichte der Synthesen zwischen jüdischem imb deutschem Geist, eine Geschichte der fortlaufenden organischen Einung deutschen Willens und jüdischer Leistungsenergien — in der Tat, die überzeugende, klärende, Mißverstehen lösende Wirkung solchen Sichtbarmachens geschichtlicher Wirklichkeit ist gar. nicht zu überschätzen.
Hier aber müssen nur anhalten und von der Geschichte zu uns selber kommen. Geschichte zeugt für uns — aber nicht ohne uns. Sie zeugt nur so lange für uns, als wir für sie zeugen, mit unserem Erleben, Wollen und Vollbringen. Dies gilt nun ganz besonders für das leidige, heikle und tausend Keime des Mißverstehens in sich bergende Problem des „Heimatrechtes", das, weder von Inden noch von Nichtjuden je ganz zu Ende gedacht worden ist.
Eben für diese Angelegenheit hat man sich wiederholt geschichtlicher Deduktionen bedient, man hat das „Heimatrecht der Juden in Deutschland" geschichtlich begründet, und es ist kein Zweifel, daß geschichtliche Besinnung diese Angelegenheit weit und tief zu klären und sie aus der trüben Sphäre gehässiger Sentiments in die reinere Sphäre erkenntnishasten Verstehens zu heben vermag. Das letzte Wort aber wird hier nicht von der Geschichte, sondern von den Lebenden gesprochen
Man kann das Heimatrecht geschichtlich begründen, und inan soll es tun, wie man alles tun soll, was Wahrheit an den Tag befördert.
Aber man kann es nicht n u r geschichtlich begründen. Geschichte genügt nicht, wenn man vollesUeberzeugen und vollesVer- stehen schaffen will. Für ein vertieftes Programm der Aufklärungsarbeit, für diejenige Aufklärung, die von Seele HU Seele durchdringend wirkt, reicht geschichtliche Argumentation nicht aus. Geschichte läßt einen Nest, einen lebendigen, Nest, und der ist unsere Aufgabe.
Es nützt nichts: wir müssen uns ganz genau verstehen, ohne Ungeduld und Sprung des Denkens. '' }
Geschichte zeugt für uns — aber sie ersetzt nicht unsere eigene B e w ä h r u n g. Was Sie,
geneigter Leser, sind und ich, der Schreibende, bin — das ist nicht mehr in der Geschichte zu lesen. Unvertretbar müssen wir hinter und neben der Geschichte inuner wieder für uns selber zeugen. Geschichte ist weder Ruhekissen noch Handlanger des Jchs, weder Ersatz der Selbsterkenntnis, noch Ersatz der Selbst- bereitschaft und S e l b st e n t s ch e i - d u n g. Wer in beit Spiegel der Geschichte sieht imb sich sucht, findet ohne Zweifel darin das Bild oer in ihm von je angelegten, eingeerbten, aus >der Schicksalsgemeinschaft der Familie, des Stammes, des Volkes in ihn eingeprägten Möglichkeiten. Aber ob er diese Möglichkeiten entfaltet oder unentfaltet läßt — oder ob er ganz neue Möglichkeiten aus neuen Erlebnissen, Erregungen, Schicksalen, Synthesen in sich entfaltet und in die Welt der Lebendigen ausstrahlt, ob er alte Rechte sich tiefer eineignet oder ob er sie preisgibt, weil vielleicht neue Pflichten neue Rechtsverhältnisse verlangen, das alles ist ganz und gar die Angelegenheit der ureigenen Verantwortung, Leistung oder Uuterlassung der Persönlichkeit. Sie selber steht dafür ctn, und niemals kann sie ihren Wert, ihre Geltung, ihren Anspruch nur aus der Geschichte ihres Volkes, ihrer Rasse nbleiten (wie die Eitelkeit und Verantwortungsträgheit des Rassenwahnes lehren will).
Auch im volksheitlichen Leben gibt es große Gebiete der Auseinandersetzungen, Aufgaben, Probleme, in denen Geschichte und Berufung auf die Geschichte in gar keiner Weise Erlebnis und Bekenntnis ersetzt; ja die Verwechslung nur geschichtlich begründeter und lebendig bewährter und genährter Ansprüche führt hier zu zahllosen Mißverständnissen.
Es ist eben die Gefahr des Historismus, daß er den Menschen im Geschichtlichen untertauchen läßt, Gegenwart gleichsam in Geschichte auflöst und. den einzelnen darüber hinwegtäuscht, daß keine geschichtliche Erkenntnis die Selbsterkenntnis, keine geschichtliche Formung die Selbstentscheidung ersetzen kann und darf. Keine geschichtliche Deduktion eines Rechts- und Geltungsanspruches kann starr und gleichsam automatisch entbinden von der lebendigen Bewährung dieses Anspruches heut und hier.
AuS dieser historischen Befangenheit ist nun das Problem des „Heimatrechtes" noch so wenig gelöst, daß seine Erörterung bisher mehr Verwirrung als Entwirrung geschaffen hat. Und zwar bei Nichtjuden genau so wie bei den Juden selber.
Haben wir uns aber verständigt über bie* Zuständigkeitsgrenzen der Geschichte, so sind
AUS DEM INHALT:
Ludwig Holländer: Die jüdische Presse Deutschlands Seite 2
„Enthüllte Talmudzitate“ Seite 3
Selma Stern : Der gelbe Fleck Seite^ 5 Professor Dr. Th. Plaut (Hamburg):
Juden in der deutschen Wirtschaft Seite 5 Theodor Kappstein: Israels Propheten, religiös-soziale Sendboten an die Gegenwart Seite 7
wir auch verständigt über das Auftriebs- und Entwirrungszentrum des Problems vorn Heimatrecht:
Dies Heilnatrecht wird den Juden vom deutschen Antisemitismus init historischen Gründen bestritten.
Dies Heimatrecht wird von den jüdischen Deutschen init historischen Gründen hergeleitet.
Man kann es aber w ed e r (eud- g ü l t i g ) m i t h i st 0 r i s ch e n Gründen bestreiten noch h e r l e i t e n, weil das H e i rn a t r e ch t, wenn es überhaupt einen Sinn für lebendige, d. h. erlebende Menschen haben soll und nicht eine sinnentleerte, tote und ganz imb gar ungültige Formel sein will, a u f dem konkreten Heimaterlebni8 des einzelnen M e n s ch e n b e r u h t, und rveil dieses Heimaterlebnis u n ablei tbar, unübertragbar, in keiner Weise der V e r a l l g e m e i n e - r u 11 g Zuaüngli ch, i n .jeder Weise der i n t e l l e k t u a l i st i s ch e n Z erde u t e l u n g und Z e r l ö s u n g entzogen ist.
Das Heimnterlebnis — hier ist der Punkt, von dem aus die neuen Fronten der Erkenntnis aufgerollt werden müssen.
Das Heimaterlebnis ist durchaus ein Jch- Erlcbnis, ein unmittelbares, ureigenes und durch keinen Einfluß von dritter Seite irgendwie zu vermittelndes oder abändertiches Erlebnis. Man hat es oder man hat es nicht. Wer es nicht hat, dem kann es niemand geben. Wer es hat, dem kann es niemand nehmen. Kein rationaler Weg führt zu diesem Erlebnis, kein rationaler Weg führt von ihm fort. Das Heimaterlebnis ist eine von den ganz tiefen, ganz seelenhaften, ganz irrationalen Urformen des B e rb u nd e n s e i n8 z w i - s ch e ii M ensch u n d Ra u m. Mens ch u n d M i t m e n s ch. Nt e n s ch und Gemein- schas.t.
Und dies Erlebnis ist zugleich die endgültige, völlig unproblematische Konstituierung eines Seins.. Denn im Heimaterlebnis ist zutiefst, in einziger und Zugleich letztmöglicher Instanz begründet und festgestellt- welches