435

Dr. Franz Oppenheimer: Die Anfange des jüdischen Kapitalismus.

436

sich die Dichtigkeit der dortigen, jüdischen Be­völkerung im frühen Mittelalter erklären, die der Sage nach Hunderttausende schwer bewaffneter Krieger zum Heere des Partherkönigs entsenden konnten, und deren Macht und Ansehen so gross war, dass der Chazaren-Khan Kagan im achten Jahrhundert mit seinem ganzen Volke zum Juden­tum übertrat; und wenig hat gefehlt, dass auch die Russen das Gleiche thaten. Heute treiben die Nachkommen jener Russen die Nachkommen jener Chazaren, reine Arier, Slavogermanen, blonde, langschädlige, grauäugigeHerren­menschen" alsSemiten" aus dem Lande! Klios Humor ist zuweilen grausam!

Jedenfalls also ist die Verbreitung der Juden über die Kulturwelt als Hausierer, Wechsler und Kaufleute nicht entfernt in dem Maasse auf die Zerstörung Jerusalems zu beziehen, wie das ge­wöhnlich angenommen wird. Im Gegenteil steht fest, dass das unglückliche Land unter der weisen Regierung der römischen Imperatoren der ersten Jahrhunderte bis zum und sogar nach dem Auf­stande des Bar Kochba noch eines gewissen Wohlstandes genoss. Erst die Folgen der süd­lichen Völkerwanderung, des Arabersturmes mit seiner Verwüstung haben die Vernichtung des Volkes als eines bodenständigen Organismus vollendet.

Iii.

Was die Völkerwanderung in ihrem nörd­lichen und südlichen Strome, die kriegerischen Bewegungen der Araber im Süden und der Ger­manen und Slaven im Norden des alten Kultur­kreises ausgerichtet haben, das macht man sich am besten klar, wenn man sich vor Augen hält, dass die Länder im weiten Umkreise des Mittel­meers, Europa bis an Drau und Donau, bis an den Main einschliesslich aller keltischen Sitze in Gallien, Spanien und Britannien, dass Afrika bis zur Sahara südwärts, und Asien bis an den Indus und den Kaspisee zur späten Römerzeit wirklich einen einheitlichen Kulturorganismus darstellten, in dem eine Sprache, die griechische, überall ver­standen wurde, in dem ein Gesetz, das römische, überall Geltung hatte, in dem ein gewaltiger Handelsverkehr, der nach der Weltstadt Rom, gravitierte, alle Provinzen und halb selbständigen Staaten zusammenschloss, in dem eine Bildung und Weltanschauung, die hellenistische, herrschte.

Die Völkerwanderung zerschlug das alles. Der eine hochentwickelte Kulturorganismus zer­

fiel in viele Stücke, die ein kleineres Leben weiterführten. Wie bei einem 'zweiten Turmbau zu Babel verschwand die gemeinsame Sprache, um unzähligen barbarischen Idiomen Platz zu machen; mit dem ewigen Rom, seinem Centrai­markt, verfiel der Welthandel der Zeit; die durch die kriegerischen Verwüstungen bedingte Ver­armung zerstörte die Gewerbe der Provinzen, da alle Welt genug zu thun hatte, um Brot und grobe Kleidung zu schaffen. Und die neuen Herren, die Germanen im Norden, die Araber im Süden des Mittelmeeres, mussten erst neue Bedürfnisse empfinden lernen, Bedürfnisse einer höheren Kultur, als die ihrer primitiven Heimat, ehe eine neue Nachfrage die halb vergessenen Künste, die versandeten Handelsbeziehungen wieder erwecken konnte. Nur im Orient, in der Beziehung zu dem aus dem Zusammenbruch ge­retteten Ost-Rom, im Handel mit- der Weltstadt Konstantinopel erhielt sich einigermassen die Tradition der Gewerbe und der Kaufmannschaft.

In dem Augenblicke aber, wo aus dem Chaos der sie schiebenden und drängenden, kämpfenden, vergehenden, zersplitternden Stämme neue Staaten aufblühen; von dem Augenblicke an namentlich, wo jene beiden Wanderungsströme, die nördlich und südlich des Mittelmeers nach Westen flössen, bei Tours und Poitiers und bei Xeres de la Frontera auf einander prallen, sich gegenseitig aufstauen und zur Ruhe, zur dauernden Sesshaftigkeit zwingen: in demselben Augenblicke finden wir im Orient und Occident die Juden als die Händler der Welt, als dieErben der Phönizier". Nicht allein: denn die seefahrenden' Friesen und Wenden, die Beherrscher der Nord­see und der Ostsee mit ihrem uralten Handel, stehen von Anfang an neben ihnen; Südfrank­reich, das in den Stürmen der Völkerwanderung verhältnismässig noch wenig gelitten hatte, stellt sein Kontingent, und hier ragt namentlich die Handelsstadt Cahors so hervor, dass wir ihre Bürger, die Kawerziner, häufig neben den Juden genannt finden. Später treiben auch Eingeborene überall Handel, zuerst hörige Kaufleute der grossen Grundherrschaften von ministerialischem Rang, die Scaramanni, später freie Händler, die Schöpfer der Hansen und Kaufmannsgilden: aber überall erscheinen neben ihnen Juden, im Maro- winger- wie im Karolingerreich, und der Handel nach dem Orient geht fast völlig durch ihre Hände.

Wie ist das zu erklären?