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ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT
FÜR MODERNES JUDENTUM.
Herausgegeben und redigiert
von
LEO WINZ.
Bezugs- und Insertions-Bedingungen auf der letzten Textseite.
Alle Rechte vorbehalten.
Heft 10
Oktober 1904
IV. Jahrg.
ASSIMILATION.
Ich weiss nicht, wer der erste war, der das Schlagwort ausgab: „Juden aller Länder, assimilieret euch!" Aber mein Kompliment kann ich ihm darob nicht machen.
Das mag ja ein guter Mensch gewesen sein, aber er war allenfalls ein schlechter Soziologe und ein oberflächlicher Kopf.
"Was heisst Assimilation?
Das Wort ist aus der physiologischen Terminologie in die soziologische herübergenommen worden. Dort bezeichnet man damit jenes Stadium des Stoffwechselprozesses, wo der Organismus die aufgenommene Nahrung in ihre Bestandteile zerlegt hat, und diejenigen, die zu seiner Erhaltung notwendig sind, verarbeitet, in seine eignen Bestandteile verwebt, sie sich ähnlich macht, sie sich assimiliert. Aehnlich sollen gewisse soziale Gruppen unter bestimmten Umständen andere in sich aufnehmen, zersetzen und so verarbeiten, dass letztere sich in Bestandteile der ersteren verwandeln, in ihnen spurlos, ohne Rest aufgehen.
Es mag nun dahingestellt bleiben, ob die Gesellschaft als Organismus zu betrachten ist oder nicht, ob also demgemäss die Aehnlichkeit zwischen den beidenProzessen, dem physiologischen und dem sozialen, nur eine äusserliche Analogie ist, oder ob ihr essentielle Verwandtschaft innewohnt. Es mag ferner vorderhand dahingestellt bleiben, ob es im Interesse der Juden
(Nachdruck verboten.)
und der menschlichen Gesellschaft wünschenswert erscheint, dass am Judentum der Prozess der Assimilation vollzogen werde. Eins steht fest: der Assimilationsprozess ist ein aktiver; er vollzieht sich derart, dass ein Organismus — ein physiologischer oder ein sozialer — einen anderen Organismus in sich aufnimmt, ihn zersetzt, ihn auflöst und in sich verarbeitet. Was für Umstände hierbei massgebend sind, bleibt für unsere Untersuchung Nebensache. Soviel wir wissen, ist für die physiologische Assimilation von nöten, dass der assimilierende Teil zunächst eine „gesunde Verdauung", d. h. die Fähigkeit besitze, den assimilierten Gegenstand zu absorbieren und an ihm jenen Zersetzungsprozess in allen seinen Teilen zu vollziehen, der ihn verschwinden macht. Noch wichtiger jedoch ist es. dass er die Lust und den Willen besitze, diesen Prozess zu vollziehen. Um uns der alltäglichen Sprache zu bedienen, sagen wir, es gehört dazu Appetit und ein guter Magen.
Appetit und ein guter Magen gehören aber auch dazu, dass ein sozialer Organismus, ein Volk an einem andern den Assimilationsprozess vollführe. Der ,,Appetit" heisst hier das tiefempfundene Bedürfnis, sich mit dem zu assimilierenden Organismus in eins zu verwandeln, sei es, um die bedrohte eigene Selbständigkeit zu sichern, einen gefährlichen Feind vom Erdboden verschwinden zu machen oder etwa einen