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Dr. Richard Loevre: Die jüdisch-deu'sche Sprache.
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Deutsch auf die gleiche Lautvertretung in Oberplan in Böhmen und im Pustertal in Tirol, das ö für ä im polnischen Jüdisch-Deutsch (z. B. in jör „Jahr") auf fast alle deutsche Mundarten, das u für ä aber im südosteuropäischen Jüdisch-Deutsch (z. B. in jßr „Jahr") auf die Mundart von Gottschee in Kärnthen. Aber die Vorfahren der südosteuropäischen Juden können doch nicht alle aus Gottschee gekommen sein, und man wundeit sich, weshalb hier das n der einen kärnthnischen Mundart das ö so vieler anderer deutscher Mundarten verdrängt haben soll. Viel einfacher ist hier die Annahme, dass das ü des südosteuropäischen Jüdisch-Dautsch erst bei den Juden in Südosteuropa selbst entstanden ist. Es ist erst dort höchstwahrscheinlich aus ö hervorgegangen, das noch im polnischen und litauischen Jüdisch-Deutsch für ä steht. Und wenn das polnische Jüdisch-Deutsch au für ö z. B. in braud „Brot", das südosteuropäische aber dafür oi z. B. in broid setzt, so ist wahrscheinlich zunächst im gesamten polnisch-südosteuropäiscben Jüdisch- Deutsch d in au übergegangen, dann aber speziell im südosteuropäischen dies au in oi, da, nach Beobachtungen in anderen Sprachen zu schliessen, 0 nicht gut direkt zu oi geworden sein kann. Wir würden aber überhaupt zu einem wüsten Durcheinander der einzelnen deutschen Mundarten innerhalb des Jüdisch- Deutschen kommen, wollten wir die verschiedenen Vokalnuancen der verschiedenen jüdisch-deutschen Mundarten auf dialektische Eigentümlichkeiten, die bereits in Deutschland erworben wären, zurückführen. Ungleich einfacher und wahrscheinlicher ist die Annahme, dass erst in den verschiedenen Teilen Osteuropas selbst das Jüdisch-Deutsche seine Vokale verschieden verändert hat.
Ist also die Annahme Saineans betreffs der Herkunft des jüdisch-deutschen Vokalismus abzulehnen, so ist doch eine andere Theorie, die er hiermit in Verbindung gebracht hat, durchaus aufrecht zu erhalten. Sainean macht nämlich darauf aufmerksam, dass die Vokale im Hebräischen sich in den verschiedenen Gegenden genau so wie im Jüdisch-Deutschen verändert haben. So ist in Polen und Litauen (wie auch in Deutschland) nicht nur deutsches ä jüdisch-deutsch zu ö, sondern auch althebräisches (noch in der sephar- dischen Aussprache erhaltenes) ä ( T ) hebräisch zu ü geworden: es heisst hier also nicht bloss jüdischdeutsch jör „Jahr", blösen „blasen" usw., sondern auch hebräisch böchur für ursprüngliches bächur, lewönö für ursprüngliches lewönä usw. Entsprechend ist in Ungarn, Südrussland und Rumänien deutsches ä nicht nur jüdisch-deutsch, z. B. in jär, blasen, sondern auch hebräisch z. B. in böcher, lew?7ne in tt übergegangen (in letzter Wortsilbe werden hier alle vollen Vokale auch in der Aussprache des Hebräischen zu einem ganz kurzen e geschwächt). Analog wie mit ä verhält es sich auch mit den übrigen Vokalen, z. B. mit e, das in Polen nicht nur jüdisch-deutsch, z. B. in schnai „Schnee", gai „ich gehe", sondern auch hebräisch z. B. in alainu in ai, in Litauen aber und in Südosteuropa in beiden Fällen in ci, d. h. sowohl in jüdischdeutsch schnei, gel, wie in hebräisch alsinu usw. in öl verwandelt worden ist. Dies Resultat ist ebenso interessant, wie es keinen Zweifel an seiner Richtigkeit zu- lässt, und ich habe mir dasselbe schon klar gemacht als ich im Jahre 1889 einen ähnlichen Fall in dem von mir behandelten niederdeutschen (plattdeutschen) Dialekt des Magdeburger Landes aufgedeckt habe. In dem südlichen Teil dieses Gebietes haben nämlich die ursprünglich mit Lippenrundung gesprochenen Vokale
ö, ö, ü, ü diese Lippenrundung verloren, sind also zu e, e, i, i geworden: genau aber soweit wie das im Niederdeutschen geschehen ist, ist es auch in dem von der Landbevölkerung im Verkehr mit Gebildeten gesprochenen Hochdeutschen eingetreten, obwohl ö und ü im Hochdeutschen in ganz anderen Wörtern als im Niederdeutschen vorkommen. So heisst es dort in dem nördlichen Teile des Gebietes niederdeutsch z. B. böme „Bäume", hüte „heute", in dem südlichen aber beme, hlte; genau soweit wie nun im nördlichen Teile niederdeutsch bö ne, hüte üblich ist, wird auch hochdeutsch z. B. höher, Füsse gesprochen; wo aber die niederdeutsche -Aussprache beme, Lue beginnt, da fängt auch die hochdeutsche höher, Fzsse an.
Sonst ist aus Saineans Arbeit besonders die Zusammenstellung einer grösseren Anzahl jüdisch-deutscher Wörter hichtdeutschen Ursprungs und" ihre Einordnung in bestimmte Bedeutungsklassen bemerkenswert. Hebräischen Ursprungs sind danach zunächst religiöse Ausdrücke. Zu diesen gehören auch solche des Kalenders, wie chödesch „Neumond", schabbos „Sonnabend", 1 ) sowie Bezeichnungen der Gemeinde wie kehillo und kohol. Hieran schliessen sich, da den Rabbinern auch die Rechtsprechung zustand, auf Rechtsverhältnisse bezügliche Wörter wie mischpot „Prozess", pas- kenen „richten", tsewoo „Testament - *. Aus Ausdrücken des rabbinischen Schrifttums sind nach Sainean auch solche jüdisch-deutschen Wörter hebräischen Ursprungs hervorgegangen, die wie ikkor „Grundlage, wesentliche Sache", taano „Argument", tseruts „Vorwand" ein logisches Verhältnis bezeichnen; vor allem aber rechnet er hierhin die grosse Menge jüdisch-deutscher Partikeln hebräischer Herkunft, da diese m der Dialektik der Rabbiner gang und gäbe waren. Hierhin gehören Wörter wie awade „gewisslich", afillu „selbst wenn", chuts „ausgenommen", dawko „durchaus", d'haino „nämlich", mikolsch' ken „um so mehr", tekef „unmittelbar" u. a. Die auf die Familie bezüglichen Ausdrücke hebräischen Ursprungs, wie mischpocho „Familie", knas „Verlobung", kalla „Braut", beruhen nach Sainean auch auf dem religiösen Leben, ebenso die den Tod betreffenden wie lewaje „Leichenbegängnis", kewer „Grab" u. a.
Neben der religiösen ist es nach Sainean besonders die intellektuelle Sphäre, in der das Jüdisch-Deutsche Entlehnungen aus dem Hebräischen vorgenommen hat. Fast alle jüdisch-deutschen Abstrakta gehören hierhin, wie tsoros „Kummer", mitswo „gute Tat", emes „Wahrheit", chochmo „Klugheit", chen „Anmut", kowed „Ehre", masol „Glück", sach „Menge", m?n „Art" usw. Offenbar stammen diese Ausdrücke deshalb aus dem Hebräischen, weil sie an und für sich in der Schriftsprache, die doch ganz vorwiegend hebräisch war. weit häufiger als in der Umgangssprache vorkamen.
Auch die jüdisch-deutschen Ausdrücke des Handels kommen nach Sainean wenigstens zum Teil aus dem Hebräischen, so socher „Kaufmann", schore „Ware", matbea „Münze", keren „Kapital" u. a. Diese Wörter sind wohl absichtlich und zwar deshalb dem Hebräischen entnommen worden, um von Nichtjuden nicht verstanden zu werden.
J ) Sainean schreibt schabbos nach dem Hebräischen; es wird doch aber jüdisch-deutsch wohl überall schabbes gesprochen, indem auch die unbetonten Vokale der hebräischen Wörter wie die der deutschen zu ganz kurzem e geschwächt werden. Ich habe hier wie überall die sich an das Hebräische anlehnende Schreibung Saineans für das Jüdisch- Deutsche beibehalten;