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Samuel Hirszenberg.
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S. HIRSZENBERG. OEL-STUDIE.
heimnis des vollendeten künstlerischen Schaffens.
Es ist nun sehr interessant, daraufhin Hirszen- bergs Werke, besonders die reifsten unter ihnen, zu betrachten. Irgend ein rein geistiger Vorgang: eine Erinnerung, eine Sehnsucht, eine Stimmung, Mitleid, Zorn, Empörung scheinen der Urkeim zu sein, der die schaffende, plastische Phantasie des Künstlers befruchtete. Diese Phantasie arbeitet mit grosser Präzision und holt sich aus der realen Welt die Formen und Gestalten, in die jenes Gefühl sich kleidet. Vor allein die Menschen und dann das Licht und der Schatten, von denen umflossen jene uns entgegentreten. Die Stimmungen, Gestalten und Bilder, mit denen seine Seele von der frühesten Jugend an imprägniert wurde, von denen seine Phantasie gesättigt und sein Gemüt durchtränkt wurde, bilden für ihn einen unerschöpflichen Born. Der Grundzug seines Gemüts jedoch, wie er sich in seinen bisherigen Gemälden vorwiegend äussert, ist eine gewisse sanfte, sehnsuchtsvolle Schwermut, die sich auch in seiner Vorliebe für das Helldunkel, für dämmerige Stimmungen und für den Kampf zwischen künstlichem Licht und dem heranbrechenden Morgen kundgibt, und die sogar aus seinem zornmütigen und empörungsvollen „Ahasver" noch herausklingt.
ZweiWesen, die voneinander grundverschieden zu sein, ja einander schroff und unvereinbar
gegenüber zu stehen scheinen, haben sich von Hirszenberg zu einer harmonievollen, anmutigen Einheit verschmolzen: der polnische Ghettojude und der moderne Künstler. Kindheit und Jugend verflossen ihm im engen Rahmen der Judengasse mit ihrem Cheder, ihrem Bethamidrasch, ihrem Markt, ihren markanten, ausgeprägten Figuren, ihrem hastigen Treiben, ihren bald seltsamen, bald poesievollen, bald bizarren, bald ergreifenden Bräuchen und Riten. Beinahe ohne vermittelnden Uebergang geriet er aus diesem Milieu in eine diametral entgegengesetzte Welt, in die Welt griechischer Göttinnen, venetianischer Damen, florentinischer Farbentrunkenheit, polnischer Grandseigneurs, in die Welt leuchtenden Marmors, üppiger Formen, schwellender Linien und glühender Farben. Kann es einen grösseren Gegensatz geben, als zwischen Bethamidrasch und Paolo Veronese oder Tizian, zwischen einer Judengasse und einer griechischen Säulenhalle, zwischen Schulchan aruch und Renaissance? Hirszenberg wurde Kunstjünger. Krakau, München, Paris! Kunstausstellungen, Museen, die Herrlichkeiten der Welt tun sich vor ihm auf. Welch ein Taumel, welch ein Götterrausch muss den schmächtigen, schüchternen Judenjungen er- fasst haben, als diese ganze neue Welt der Pracht, des Glanzes und der Schönheit sich vor ihm eröffnete und seine lodernden Sinne zum Mit- geniessen und — Mitschaffen einlud. Musste ihm