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Siegbert Salter: Kleine Ursachen.
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gegen das harte Holz des Barrens, der mitten im Schulhofe stand, und liess all seinen Schmerz und all sein Weh in die lockere, staubige Lohe niederrieseln. Der ganze kleine Körper erbebte, als ob böse Krämpfe ihn durchwühlten.
Längst schon hatte die Glocke das Ende der Pause verkündet; alles war schon in wildem Durcheinander die ausgetretenen Sandsteintreppen hinaufgetobt, und immer noch lehnte Mäxchens schlitternde Gestalt am Barren; die eine Hand hielt er fest vor die Augen gepresst, die andere mit dem unberührten Frühstück hing schlaff hernieder. Da bemerkte ihn der Herr Rektor, der auf der letzten Treppenstufe stehen geblieben war und seinen gestrengen Blick noch einmal forschend über den weiten Platz schweifen liess.
Ein wenig missmutig trat er auf den Jungen zu und hob dessen tränenfeuchtes Antlitz in die Höhe; und nun musste Mäxchen die traurige Geschichte erzählen, was ihm nur schwer und nach manchem Stocken gelang. Ein sonniges Lächeln glitt über die Züge des gestrengen Herrn Rektors.
Im allgemeinen war er auf die jüdischen Schüler seiner kleinen Anstalt nicht gut zu sprechen. Nicht dass er Antisemit gewesen wäre, aber sie verursachten ihm allerlei Scherereien. Dass sie am Sabbat nicht schreiben durften, beeintlusste den Stundenplan manchmal in unliebsamer Weise; e.n Extemporale konnte an jenem Tage überhaupt nicht gegeben werden. Dazu kamen noch die unheimlich zahlreichen Feste, die unbedingt durch frommes Zuhausebleiben der Israeliten gefeiert werden mussten. Aber daran dachte heute Rektor Lore nicht. Wie überlegend fuhr er mit den Fingern durch den rötlich wallenden Bart. Erst wollte •er die kleine Münze aus seiner Tasche hervorziehen und den armen Knaben damit von all' dem schweren Herzeleid befreien. Dann aber erinnerte er sich der pädagogischen Pflichten, deren ein Erzieher der Jugend zu keiner Stunde des Lebens, in keiner noch so weichen Stimmung entraten darf. Deshalb legte er tröstend seine Hand auf das Haupt des weinenden Knaben und versprach, mit dem Schaumann zu sprechen.--—
Seit jenem Tage war mit Mäxchen eine grosse Veränderung vorgegangen. Seine kleine Kinderseele verkroch sich vor der strengen Frömmigkeit der Verwandten und an die Stelle offenen Frohsinns trat nach und nach dumpfe Verstocktheit. Als er damals aus ■der Schule heimgekommen war, hatte er sich still in eine Ecke gesetzt und die herrlichen Dinge, die er soeben gehört und gesehen, sich nochmals ins Gedächtnis zurückgerufen. Aber wie sehr auch die •Gedanken und Bilder sich auf seine Zunge drängten, wie sehr sich sein Kinderherz nach jemand Liebem sehnte, dem er von den Wundern erzählen könnte: •eine instinktive Scheu hielt ihn davon zurück, in •Gegenwart des gestrengen Onkels darüber zu sprechen. Er kam sich vor wie ein Kind, dem man das Betreten
eines blütenbesäten Rasens streng verboten hatte, und dem es gelungen war, mit weitgerecktem Arm vom Pfade aus eine der lieblichen Blumen zu erhaschen. Wer konnte wissen, ob der liebe Gott des Onkels nicht auch darüber böse war, dass er ohne Verletzung des strengen Gebots das begehrenswerte Ziel erreicht halte.
So verharrte der Kleine denn in verbissenem Schweigen, und unbewusst dämmerte ein leiser Zweifel in seiner verletzten Kinderseele auf. Er begann, das Tun und Lassen der grossen Verwandten mit kritischen Augen zu betrachten und manches fiel ihm fürder auf, was er früher nie beachtet hatte. So wunderte er sich jetzt, warum Onkel Türe und Fenster des kleinen Ladens am Sabbat so fest verschlossen hielt, während er doch manchmal mit einigen Kunden von der Stube aus in den dämmerigen Verkaufsraum hineinging. Und nun hatte er es bald heraus, dass doch Waren verkauft wurden, und durch eine Ritze in der Tür bemerkte er sogar, dass der Onkel Geld berührte: nicht eine einzelne Münze, ein Fünfpfennigstück bloss, sondern eine ganze Menge schweres Geld, harte Taler und sogar ein Goldstück!
Mäxchen verbrachte nach dieser Entdeckung eine schlimme Nacht. Mit offenen Augen lag er lange da und dachte und dachte. Es musste also doch nicht so schlimm sein mit dem Berühren des Geldes am Sabbat. Und so vieles andere war vielleicht auch gar nicht so schlimm. Dass er am Sabbat nicht schreiben sollte, gefiel ihm zwar ganz ausserordentlich. Da brauchte man in der Schule nicht mitzuschreiben und man war ganz sicher, nicht an die Tafel gerufen zu werden. Ueber das Schreibverbot zerbrach sich Max weiter nicht den Kopf. Wie aber war es mit dem Schneiden? Er hatte von Papa so schöne Bilder bekommen, die mit der Schere herauszuschneiden waren. Es war ein gar köstlicher Zeitvertreib, die goldstrotzenden Könige, die stolzen Ritter und die feurigen Pferdchen aus den grossen Bogen herauszulösen, dass auch nicht eine einzige Spitze der vielzackigen Krone, nicht ein Fäserchen der schmalen Lanzen, kein Härchen der wallenden Schweife verletzt wurde. Aber am Sabbat durfte er nicht schneiden, weil das eine Arbeit war. Aber die zweite Konjugation lernen, was doch gewiss eine Arbeit, eine schrecklich schwere Arbeit war, das durfte er am Sabbat, das musste er sogar.
Einmal hatte er versucht, einen schönen Krug mit offenem Zinndeckel herauszubringen, ohne die Schere zu gebrauchen, da das so eine grosse Sünde war. Mit einer stumpfen Nadel war er den Umrissen gefolgt und haue dann probiert, die übeiflüssigen Papierteile abzureissen. Da war der Onkel auf ihn losgestürzt und hatte ihm mit zürnenden Worten das schöne Bilderbuch aus den Händen gerissen und ihn belehrt, dass man auch nicht reissen dürfe. Damals glomm es wie Trotz in den Augen des Knaben auf. Warum