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Josef Me!nik:Die Juden" von Eugen Tschirikow.

ein banges Erwachen, und während dieSöhne'* freiheitstrunken auf gefährlichen Pfaden wandeln, hüllen sich dieVäter" in Trauer, und alte, qualvolle Erinnerungen erwachen unter den Peitschenhieben der Gegenwart.

Eugen Tschirikow machte den Versuch, in seinem neuen SchauspielDie Juden" (deutsch von Georg Polonskij. München 1904. Verlag von Dr. March- lewski & Co.) d'e im modernen Ghetto hart an- einanderstossenden, sich berührenden und bekämpfen­den Geistesrichtungen darzustellen, und, um es gleich zu sagen, es ist zu bewundern, wie dieser Russe lein zu beobachten wusste und nicht nur das äussere, sondern auch das Innenleben seiner Gestalten erfasst hat. Sonst ist dies bei russischen Schriftstellern, wenn sie einen Juden darstellen, nicht der Fall, wie über­haupt der Jude in der russischen Literatur bisher in den meisten Fällen einem Zerrbild ähnlicher als sich selbst aussah. Und wenn Tschirikow in seinem neuen Stücke hie und da die Grenzen des Dramas über­schreitet und der Empörung eines prächtigen Herzens in lyrischem Aufschreien Luft macht, so hat er doch mit seinem Werke eine sympathische und künstlerische Leistung vollbracht.

Ein alter Jude, Leiser Frenkel, Uhrmacher, seine Kinder, Boris, Student, und Lija, Studentin, die beide wegen Beteiligung an Unruhen relegiert wurden, Nach­mann, ein junger Lehrer (Melamed), ein begeisterter und exaltierter Schwärmer, der im Gegensatz zu Boris und Lija, die Sozialdemokraten sind und sich an der Arbeiterbewegung beteiligen, Zionist ist, Beresin, ein russischer Student, der Lija liebt, Iserson, ein Arbeiter aus einer mechanischen Werkstatt, und Fuhrmann, ein typischer jüdischer Arzt das sind die Hauptgestalten des Stückes und die Vei treter der verschiedensten Meinungen und Gedanken, von denen das Ghetto wie das übrige Russland, wenn auch in anderen Farben und Betonungen, bewegt wird. Die ergreifendste, er­schütterndste Szene im Stücke ist die Schilderung der Judenmetzeleien im vierten Aufzug, die, ohne die Ba­nalitäten eines Juchkewitsch, das Entsetzen dieser furchtbaren Erscheinung wiedergibt. Es überläuft einen kalt, wenn man folgendes Gespräch liest, das wohl tatsächlich stattgefunden haben mag:

Der stämmige Bursch: Hat sich umgebracht, das Ludei! Hat sich selbst totgeschossen! (Gemeint ist Lija, die Studentin.)

Dritte Stimme: Geh', Wasjka! Sie ist noch warm! .... Hast noch Zeit! (Gelächter der Menge.)

Gelächter der Menge . . . Dies Gelächter ist es, das Tschirikow seine Anklage gegen die bürgerliche

Gesellschaft zu schreiben veranlasst hat. Denn sein StückDie Juden" ist eine Anklage, was demselben ein aktuelles Gepräge im besten und vornehmsten Sinne dieses Wortes verleiht. Bei all dem tiefen Ver­ständnis für das geistige und soziale Leben des heuti­gen Ghetto, das Tschirikow in denJuden" offenbart,, bei all der Lebenswahrheit, mit der er seine Helden zu gestalten versteht, der Feinheit, mit der er die rührende Seele des exaltierten Nachmann zeigt, war doch seine Absicht, gegen die bürgerliche Gesellschaft eine Anklage, eirje Selbstanklage, zu erheben. Man fühlt sogar darin, wie er den Russen Beresin handeln und sprechen lässt, dass er ihn für einen Phrasen­macher und nicht für einen Wahrheitsmenschen hält. Es ist Tschirikow, der aus Nachmanns Munde redet: Ich habe nie gesehen, auch nicht gehört oder gelesen, dass die christliche Intelligenz jemals den Versuch ge­macht hätte, die Judenscblächterei aufzuhalten. Alle verstecken sich, alle beeilen sich, durch die Polizei sich bescheinigen zu lassen, dass sie Christen sind, dass ihr Eigentum christlich ist! ... Im besten Falle äussert sich ihr Heldentum darin, dass die Tapfersten von ihnen den sogenanntenanständigen" Juden erlauben, sich unter ihrem Dache zu verbergen. Sie sagen, dass es solche Menschen wie sie, d. h. Ge­sinnungsgenossen von ihnen, viele gibt.... Wo sind denn aber diese Menschen, wenn man die Juden tot­schlägt, schändet, plündert?!"

Das ist die Frage des Dichters an die christliche Intelligenz . . .

Die Juden" von Tschirikow, in denen das tief­menschliche Motiv, von der die grosse russische Kunst­literatur beseelt ist, so deutlich anklingt, sind eine ver- heissende und tiefbedeutsame Erscheinung. Die russischen Dichter, deren Herz so vielumfassend, deren schöpferische Kraft so religiös, deren Menschenliebe so gütig ist, beginnen den Juden nicht nur von seiner äusseren Seite, sondern ihn in seinem tragischen menschlichen Schicksal zu erfassen. Bei Korolenko und Tschechow findet man schon tiefe und rührende Ansätze dazu (in ^Rothschilds Geige"). Tschirikow, der natürlich an das grösste Talent des modernen Russlands, an Tschechow, nicht heranreicht, betritt diesen W r eg bewusster und entschlossener. Fern von jeder Sentimentalität und borniertem Liberalismus, zeigt er die idealen Stürmer und Dränger der Judengassc, die mit ihren resignierten Vätern, deren Sinnen aut das Vergangene gerichtet ist, im W T eltanschauungs- kampfe liegen, und die Schuld, die historische Schuld, die die christliche Gesellschaft den Juden gegenüber auf sich nimmt.