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H . York - Steiner : Koriander , der Chasan .
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Leidenschaft merkte , musste er seine Besuche ein¬
stellen . ---
Koryan suchte sich aufrecht zu erhalten . Die
Vorstellung zum hohen Geburtstag rückte immer näher
— er sollte an diesem Abend eine gute Leistung
schaffen — ihm aber stieg der Ekel auf , wenn er das
Treiben um sich betrachtete . Und doch packte es
ihn wie Neid , da er sah , wie sie alle aus ihrer Sorg¬
losigkeit heraus mühelos ihre Rollen gestalteten und
ihr Leben meisterten , während es schien , als sollte er
an seiner künstlerischen Aufgabe und am Leben
scheitern . Der Gedanke an dieses Weib und an die
einzige selige Stunde mit ihr liess ihn nicht mehr
los . . . . Die Proben wurden ihm zur Qual , sie
steigerten seine Leidenschaft und störten sein künst¬
lerisches Vermögen . Die Stimme wurde immer spröder ,
glanzloser . Wiederholt , wenn er mit Evchen zusammen
auf der Bühne stand , starrte er seine Partnerin ge¬
dankentos an und versäumte den Einsatz . Die Kollegen ,
die sich ursprünglich an dieser sichtbaren Verliebtheit
ergötzt hatten , wurden ernsthaft besorgt , denn im
Grunde sind sie gutmütig beim Theater . Sie tuschelten
zusammen , berieten auch ernsthaft mit der Vestro und
auch ohne diese , und kamen lange zu keinem Resultate .
„ Wissen muss er es einmal, " behauptete Kara -
bacsek . Dem widersprach auch niemand . „ Aber nach
den , Meistersingern * u , meinte Schrottbach , „ sonst
bricht er mir zusammen . " Meyersberger brummte :
„ Er blamiert Sie sowieso mit ' n Stolzing . "
Bierbaum , der Cyniker , schien wie umgewandelt ;
er sprach wenig in den gemeinschaftlichen Beratungen ,
und was er sagte , klang ernst . „ Die Vestro, " erklärte
er , „ die hat Butter auf dem Kopf , die ist mir zu ängst¬
lich . Sie hat dem Grafen von der unglücklichen
Leidenschaft ihres jungen Kollegen erzählt und ge¬
beten , er soll die Verlobung aufschieben , bis man ihn
zur Vernunft gebracht hat . Der Graf ist hinein¬
gesprungen , weil man in der Stadt von Koiyans Liebe
und ihrer Anständigkeit gar so viel gesprochen hat .
Ich kenn ' aber die Gattung — entweder sie hat den
Koryan als Mauerbrecher verwendet und schämt sich
jetzt , oder --- na . ich hab ' nichts g ' sagt . Jeden¬
falls ist er ein armes Luder , so ein Idealist , und ich
will mit ihm g ' scheit reden . "
Dagegen hatten die anderen schliesslich nicht
viel einzuwenden , denn keiner übernahm gern die
heikle Aufgabe .
Am selben Tage besuchte er den Tenor in seiner
Wohnung . Er sprach klug und teilnahmsvoll , bereitete
ihn sorgfältig vor und teilte ihm mit , dass sich die
Vestro demnächst mit einem Grafen verloben werde .
Koryan frug bloss : „ Hat . . . . hat sie Sie her¬
geschickt ? "
Bierbaum schüttelte den Kopf . „ O nein , ich lass '
mich von die Frauenzimmer zu was nicht leicht ver¬
wenden , ich komm ' freiwillig , weil es mir leid tät %
wenn Sie . . . . einen Unsinn begehen möchten .
Glauben Sie mir , sie sind ' s alle zusamm " nicht wert ,
die Frauenzimmer . Sie betrachten die Weiber recht
ideal ; ich schau ' mir nur eine jede daraufhin an , was
kannst bei der erreichen ? . . . . und dann ein sanftes
Fusstritterl und aus is . . . . Wieso ich dazu ge¬
kommen bin ? . . . . Na , so ähnlich wie Sie . . . .
Erzählen soll ich ' s Ihnen ? . . . . O nein , ich mag mir
nicht den Appetit verderben . "
Es entstand eine grosse Pause . Bierbaum schaute
immer w r ieder teilnahmsvoll nach Koryan , der fahl und
müde in einem Fauteuil lehnte . „ Ich hab ' gesehn ,
dass Sie am Stolzing zugrund ' gehn . . . . immer so
eng mit dem Mädel beisammen , zerrüttet und verstört .
Und da hab ' ich mir gedacht , es muss ein Ende ge¬
macht werden — Sie müssen klar sehen und ein
neues Leben anfangen . "
Koryan schaute ihn hilflos an . . . . „ Sie müssen
vor allem für eine Woche weg . Fahren S ' zu Ihrer
Mutter . "
„ Ich hab ' keine Mutter mehr . "
„ O , das ist recht traurig . Also zu Verwandten —
zu Freunden — irgendwobin , wo Sie einen moralischen
Halt haben . Was der Mensch an Schmerzen über¬
windet , macht ihn stark . Wer weiss , ob dieser
Kummer nicht ein Glück für Sie sein wird . Jedenfalls
müssen Sie probieren , ein neues Leben anzufangen ,
denn das alte ist ein bisserl verpfuscht . "
„ Ja, " entgegnete Koryan , „ weg muss ich . " Er
klammerte sich an die Worte Bierbaums , die in seinem
Gedächtnis nachklangen : „ Irgendwohin , wo Sie einen
moralischen Halt haben . "
Die Eltern waren längst gestorben , er hatte sich
als Chorsänger bei den Kantoren durchgeschlagen ,
von Ort zu Ort wandernd und fast bettelnd . Und
elend war dieses Leben — voll Entbehrungen und De¬
mütigungen . Nur am Sabbat und an den hohen Feier¬
tagen , wenn er die Sammetmütze in das lockige Haar
drückte , fühlte er sich reich und glücklich . Wohl¬
lautend stieg die Stimme aus seiner Kehle , die Leute
in der Synagoge lauschten , der Kantor nickte befriedigt
und sogar die Kollegen Ireuten sich seines Erfolges .
Er gewann sie alle durch seine Sanftmut und den
zarten , wehmutsvollen Klang seiner Stimme . Eigent¬
lich hatte er seinen moralischen Halt in der Synagoge .
Diese Sabbate hatten ihm Halt und Kraft gegeben , sie
hatten seinem Leben Wert verliehen . Am stärksten
war ihm die nette Synagoge von Tamnitz in Erinnerung .
Dort hatte er seine erste selbständige Stellung be¬
kommen , er hatte Gott gedient und die Menschen er¬
freut . Man liebte ihn dort . . . * ja , dort liebte man ihn .
Feierlich stiegen die grossen Tage des Rosch
haschano und Jörn kipur in seiner Erinnerung empor .
Die Töne quollen mühelos aus seinem Herzen in die
Kehle , die Leute weinten und rissen ihn in ihre Rüh¬
rung hinein . Manchmal war es ihm , als töne etwas
Hohes , Mächtiges , Edles aus seiner Brust , was gar
nicht ihm gehöre , nicht aus seinem Körper stamme .
Nach beendetem Gottesdienst standen die Mitglieder
der Gemeinde am Tore der Synagoge und sagten ihm
mit dankbaren Blicken Jenscherkazesch . Und sie sandten
ihm Wein und Süssigkeiten in sein bescheidenes Heim .
Ja , dort — dort war er wahrhaft glücklich gewesen —
dort wollte er hin — dort würde er als Mensch und
als Künstler genesen . . . . Er war zwar ein anderer ,
älter , müder , weniger gläubig , und auch die Stimme —
die Stimme . . . ja , wer weiss , ob die jemals so tönen
würde wie einst , als er noch Kantor war . Ihr fehlte
der innige Schmelz , der früher alle Herzen bewältigte . . .
Wie das gekommen sein mag ? . . . und ob . . . ob
er wieder . . . . Das wollte er versuchen . Ja , noch
einmal wollte er wie vor Jahren . . . . Und schon , da
er diese Gedanken in sich keimen fühlte , war ihm
leichter ums Herz . . . .
Zwei Tage vor dem hohen Geburtstage hatte Bier¬
baum den Tenoristen vom Bahnhof geholt . Er fragte
nicht viel , er schaute ihm nur in die Augen . Was er
da gesehen hatte , gefiel ihm nicht übel . Sie blickten
stetig und voll Kraft . Das Gesicht war noch bleich ,
der Ausdruck wehmütig — aber in sich geschlossen .