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ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT

FÜR MODERNES JUDENTUM.

Herausgegeben und redigiert

von

LEO WINZ.

Bezugs- und Insertions-Bedingungen auf der letzten Textseite. Alle Rechte vorbehalten.

Heft 10/11

Oktober/November 1905

V. Jahrg.

DIE FRUCHT DER FREIHEIT.

Ist es ein böser Traum gewesen? . . . Die Morgenröte derFreiheit" zeigte sich , am Horizont, die Morgenröte der lang er­sehnten, heiss begehrten, mit tausend Stim­men herbeigerufenen Freiheit. Und siehe da! Nicht die Wogen eines sanften milden Lichts ergossen sich über die weiten Ge­lände, kein besänftigender erfrischender Tau der Auferstehung und der Wieder­belebung entquoll dem harten, glutver­brannten Boden. Die Lohe schauervollcr Flammen beleuchtete grell einen grausigen Abgrund der barbarischsten Triebe und Leidenschaften, der tierischsten Instinkte und Begierden, die sich jäh emporhoben, um der Welt das fürchterlichste Schauspiel zu zeigen, welches sie in der neueren Zeit wohl erlebt hat. Einen kurzen Moment nur dauerte der Jubel, der die emporziehende Morgenröte der Freiheit begrüsste. Nur zu bald wurde er vom Wchge-sclirei der Tau- sende und aber Tausende von grausam hin­gemordeten Opfern, vom Todesröcheln hingeschlachteter Greise, erwürgter Kin­der, aufgeschlitzter Mütter erstickt. Alles, was man in den letzten paar Jahren er­

lebt hatte, war ein Kinderspiel, war die reine Idylle gewesen im Vergleiche mit dem, was der Honigmond, die Flittertage der Freiheit, mit sich gebracht. Waren nicht Kiscbinew, Hömel und wie sie sonst alle heisscn, die Leidensstationen des her- anbrcchenden 20. Jahrhunderts, kleine, un­schuldige Versuche in Anbetracht der grauenerregenden Ereignisse der jüngsten Wochen? Vorstudien gleichsam, lehr­reiche Hebungen auf das grosse Morden, Brennen und Plündern von Kiew und Odessa und von allen anderen Städten im Norden und im Süden und im Osten und im Westen? .... Was war denn eigent­lich geschehen ? Nichts, im Grunde. Man hatte dem Lande die Freiheit gegeben, und nun wollte das Volk sich ausleben, wollte von der neuen Errungenschaft den ausgiebigsten Gebrauch machen, wollte das Ding ausprobieren, durchkosten, wie es wohl schmecken möge, wollte das neue Instrument handhaben lernen. Und viele zehntausende von Leichen unschul­diger Kinder, Greise, Frauen, Männer, Jünglinge bedecken das Feld, Ströme von