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ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT^/ FÜR MODERNES JUDENTUM.
Herausgegeben und redigiert
von
LEO WINZ.
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Heft 3
März 1906
VI. Jahrg.
DIE ALLIANCE ISRAELITE UNIVERSELLE.
Der An fang des zwanzigsten Jahrhunderts hat alle Hoffnungen zerstört, die um die Mitte des vorigen inbezug auf die Verbesserung der Lage unserer Brüder, namentlich im europäischen Osten gehegt wurden. Zerstoben sind alle Blütenträume von der befreienden und erlösenden Kraft des Fortschrittes und alle Schlagworte vom Gewissen der zivilisierten Völker, von dem schützenden Wohlwollen ihrer Regierungen haben sich als trügerisch erwiesen. Die Ereignisse des letzten Jahres haben uns gelehrt, dass wir Juden auf niemand in der Welt rechnen können, als auf uns selber. Sie haben uns aber auch noch zweierlei andere Dinge gelehrt. Dass wir nämlich stets und allerwärts auf das schlimmste ge- fasst und — gerüstet sein müssen, und dass wir überall die Ereignisse und Vorgänge der unmittelbaren Gegenwart genau und scharf im Auge zu behalten und umsichtig zu beobachten haben, um aus ihnen mindestens die nächste Zukunft, so viel wie überhaupt menschenmöglich ist, zu erraten und ihr begegnen zu können. Allenthalben hat sich das jüdische Bewusstsein geregt und insbesondere in Deutschland fragt sieh jeder denkende und fühlende Jude: „Was soll das werden?"
Es unterliegt für jedermann keinem Zweifel, dass hier vor allen Dingen Zusammenschluss nottut, und zwar ein Zusammenschluss auf breitester Basis, der die Judenheit von ganz West- und Mitteleuropa umfasst. Denn nur das einige Zusammenwirken aller Juden, die unter
Nachdruck verboten.
verhältnismässig glücklichen Umständen leben, kann eine Avirksame und dauernde Hilfe den unglücklichen Brüdern in Halbasicn und in Asien bringen. Jede Zerbröckelung der Kräfte dagegen, jede Zersplitterung der Tätigkeit muss diese unbedingt lahmlegen und . unfruchtbar machen. Wenn wir auf die Arena hinaustreten, um unter unseren Brüdern im Osten zur Hebung ihrer materiellen und kulturellen Lage zu wirken, so müssen wir als einheitliche Macht auftreten, als festgefügter Organismus, dessen jede einzelne Tätigkeit von einem innerlich zusammenhängenden Plan geleitet wird, von einer das gesamte beherrschenden und führenden Zentrale ausgeht. Wenn Einigkeit Macht ist nach innen, so ist Einheitlichkeit umsomehr Macht nach aussen. Soll unsere Arbeit unter unseren östlichen Brüdern fruchtbar sein, so muss sie vor allen Dingen auf deren unbedingtem Vertrauen zu uns, zu unserem guten Willen, zu unseren besten Absichten und zu unserem klaren, planmässigen Vorgehen basieren. Solch ein Vertrauen aber können wir bei ihnen nur dann erwerben, wenn sie an unserem Auftreten und Wirken kein Schwanken und keine Spaltung wahrnehmen, zuvörderst aber, wenn sie von der TJeberzeugung durchdrungen sind, dass wir zu ihnen als Juden, und zwar als Juden schlechthin, lediglich als Juden kommen und von gar keinerlei Nebenabsichten geleitet werden.
Diese Erwägungen mögen wohl einige hervorragende Männer in Deutschland veranlasst