Usisagesr.
ILLUSTRIERTE MONATSSCHRIFT^/ FÜR DAS GESAMTE JUDENTUM,
Herausgegeben und redigiert
von
LEO WINZ.
Alle Rechte vorbehalten.
Heft 4.
April 1912.
XII. Jahre.
ZUR FRAGE DES JUEDISCHEN GEISTESLEBENS IN DEUTSCHLAND.
Von Mathias Acher.
Der menschliche Geist ist von Natur aus etwas kurzsichtig, und dazu auch träge. Dalier kommt es, dass ihm ein Boden, der ganz höckerig von Problemen ist, von eitel Parkettglätte zu sein scheint. Aber nur anfangs. Denn die Tatsachen zwingen ihn immer mehr, genauer hinzusehen. Allmählich lernt er Unebenheiten und Unstimmigkeiten unterscheiden. Natürlich erwacht dann auch sein Forschungseifer. Er will wissen, wie sie eigentlich entstanden sind. Und schliesslich sucht er nach Mitteln, um die Höcker zu beseitigen, glaubt auch bald, die einen oder die andern gefunden zu haben.
Noch vor einigen Jahrzehnten fiel es in Deutschland oder zumindest im deutschen Judentume niemanden ein, dass die deutschen Juden den Inhalt einer Frage bilden könnten. Jedem genügte die Formel der Gleichberechtigung. Niemand wollte Näheres wissen. Allein unter dem Zwange der Tatsachen änderten sich allmählich die Stimmungen und Ansichten. Und heute sind so ziemlich, alle in Betracht kommenden Kreise zu einer mehr oder minder unzufriedenen Untersuchungslust bekehrt. Niemanden genügt mehr die formale Tatsache der Gleichberechtigung. Jeder will wissen, was dahintersteckt, wieviel Erfolg und wieviel getäuschte Hoffnung. Alle empfinden, dass nur halbe Arbeit geleistet ist, und wollen irgendwie die andere Hälfte nachgeleistet sehen. Und gleichgültig, wie sie sich dies denken mögen — durch den jüdischen Nationalismus, durch das restlose Aufgehen in der deutsch-christlichen Bevölkerung, oder durch fortschreitende soziale Einbürgerung im deutschen Volke — immer gehen sie im Grunde von einer und derselben Anerkennung aus: dass das Zusammentreffen zweier aus so entgegengesetzten Gescfiichtsecken stammender Lebensströme nicht ganz unauffällig und still und nicht ohne die seltsamsten Erscheinungen und Widerstände vor sich gehen kann. Man beobachte u. a. nur, wie scharf diese Anerkennung^selbst bei einem so durchaus gemässigten und mit dem Erreichten im Grunde so zufriedenen Politiker, wie R a t h e n a u auftritt. Wie er z. B. ohne alle Bedenken mit den Begriffen des Germanischen* "und Jüdischen als funktioneller Ele-
Xaclidruek verboten.
mente im . deutschen Staatsleben operiert. Etwas, was sich vor zwei Jahrzehnten niemand leisten durfte, dem sein Ruf liberaler Gesinnung teuer war.
Natürlich macht sich dieser Umschwung nun auch in Hinsicht'auf ein'besende res und "besonders wichtiges Gebiet der deutsch-jüdischen Beziehungen bemerkbar : insofern es sich nämlich um die Rolle der Juden in der deutschen Literatur handelt. Früher lehnte man schon die laute, öffentliche Frage nach dem Bekenntnisse oder der Abstammung eines deutschen Dichters ab. Denn — was konnte dabei Nützliches und Wesentliches herauskommen? Heute steht man mitten drin in einer lebhaften Diskussion -über dieses Thema. Und man geht dabei — offenbar unter suggestiver Einwirkung antisemitischer oder halbantisemitischer Theorien — oft weiter als nötig ist.
So z. IL Julius B a b. In einem Vortrage.
jüdischen Vereine hielt, liess kräftigster Betonung seiner entschiedenster Ablehnung — die bemerkenswertesten zeitgenössischen jüdischen Dichter in deutscher Sprache nur als dichterische „Grenzfälle" gelten, und sprach den Juden aller Zeiten, auch der alten, das Dichter- tum ab. Religiöses ■ Pathos und Prophetie dürften, meinte er, nicht mit poetischer Kraft verwechselt, sondern müssten als selbständige Anlagen gewertet werden.
Das ist übrigens nicht alles. Denn derselbe Mann, der eine so grundverschiedene seelische Ausrüstung von deutschen Juden und; Deutschen annimmt, dass er sogar ein jüdisches: Minus dar- ars' ableitet, erweist sich trotzdem als problemblind. Es geniert ihn nicht, dass die jüdischen „Grenzfälle" für ewige Zeiten hinter den jeweiligen deutschen Dichterfürsten in sehr weitem Abstände sollen marschieren müssen. Und was noch schlimmer ist, — er fühlt sich durch die Bataillone von helfenden und vermittelnden Literaturleuten — Uebersetzer, Verleger, Kritiker und Theaterdirektoren — entschädigt. In dieser Genügsamkeit und Zufriedenheit können ihm die anderen, die gleich ihm aus der alten Naivität erwacht sind, wohl nicht nacheifern.
den er jüngst in einem er — notabene unter Deutschheit und unter des Nationaljudentums