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Revue der Ereignisse.
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russische Passstreit „glücklicherweise- England nicht berühre", wird nach Gebühr abgetan. Der Protest schliesst mit den Worten: „Wir halten die Regierung Seiner Majestät für verpflichtet, uns von dieser Rechtlosigkeit zu befreien.'*
Nun sollten auch die Juden der anderen Staaten mit ihren Protesten hervortreten. Je früher und je kräftiger, desto besser. Denn man darf nicht vergessen, dass man es mit einem sehr verstockten Gegner zu tun hat. Den Grad dieser Verstocktheit kann man an einer erst jetzt bekannt gewordenen russischen Episode aus dem Jahre 1903 erkennen. Damals hat eine auf kaiserliche Anordnung zusammengetretene Kommission unter Vorsitz des reaktionären Durnowo einen Entwurf für das Passwesen ausgearbeitet, in dem die ausländischen Juden ausdrücklich den anderen Ausländem gleichgestellt wurden. Im Motivenberichte wurden hierfür Rücksichten auf den russischen Handel geltend gemacht. Auch auf andere Schwierigkeiten wurde hingewiesen, so z. B. darauf, dass ausländische jüdische Aerzte, die zu Kranken gerufen werden, wegen der Hindernisse, die sich ihrem Eintritte in Russland entgegenstellen, gewöhnlich erst zu den Begräbnissen der betreffenden Patienten ankamen. . . Und doch ist dieser Entwurf in eine Versenkung geraten, aus der er niemals hervorkommen sollte. Man wird nicht fehlgehen, die Ursache hierfür an derselben Steile zu suchen, von der auch heute jedes Entgegenkommen gegenüber den Juden abgelehnt wird.
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Russland als Erzieher.
Mit diesen Worten ist nicht etwa nur eine Erziehung durch die Macht des Beispieles gemeint. Als solche könnten höchstens die Niederträchtigkeiten aufgefasst werden, die man sich neuerdings wieder in Ungarn gegen galizische Juden erlaubt. Leute, die schon seit Jahrzehnten im Lande wohnen, mit ungarischen Staatsbürgerinnen verheiratet sind, Geschäfte betreiben, Liegenschaften erworben haben, — werden Knall und - Fall ausgewiesen, wenn sie irgend einem — Stuhlrichter nicht zu Gesichte stehen. Das ist z. B. unter vielen, vielen anderen auch einem Manne passiert, der 58 Jahre in. Ungarn wohnt. — Es ist wenig geholfen, wenn die ungarischen Juden, auch die entrüsteten, die Schuld auf die subalternen Beamten schieben. Die Regierung ist doch, sollte man meinen, dazu da, um auf ihre Beamten aufzupassen. Interessant ist auch, dass sich die österreichische Regierung die ungarischen Betyarstückchen so ruhig gefallen lässt. So blutig ernst braucht man doch die Doppelstaatigkeit nicht zu nehmen.
Als unmittelbaren Erzieher haben wir Russland schon mehrfach aufgewiesen. Nun liegen wieder zwei vielsagende Fälle vor. Der eine betrifft den in Küstend je in B u 1 g a r i e n stattgehabten Pogrom, der sich vor seinen Mustern nicht zu schämen braucht. Sämtliche jüdische Läden ausgeplündert, gerade die arme jüdische Bevölkerung heimgesucht, zweihundert Verwundete in die Spitäler gebracht — ist schon eine Leistung, die sich sehen lassen kann.
Und wenn wir noch hören, dass die Huligane Eingewanderte aus der Hauptprovinz des russischen Huliganismus, aus Bessarabien, waren, — so entringt sich ein verstehendes „Aha" ganz von selbst unseren Lippen.
Noch drastischer ist ein zweiter Fall. Den russischen Kulturträgern genügt der in N e w y o r k erscheinende „Swjet", der die löbliche Aufgabe hat und erfüllt, die russischen Juden anzuschwärzen, nicht mehr. Und so gingen sie hin und gründeten ein zweites Blatt „Russkij Immigrant", dem die weitere Aufgabe zufällt, auch die bereits in Amerika wohnenden Juden in der empörendsten Weise anzugreifen und zu Pogromen gegen sie zu hetzen. Dabei schmeichelt das Blatt dem Präsidenten Taft, stellt ihn als Freund der Slawen hin, der zur Kündigung des Handelsvertrages mit Russland nur von den Juden gepresst worden sei. Schlecht kommt dagegen Roosevelt weg, der als geschworener Feind Russlands und als Judenknecht hingestellt wird. . . . Wie man sieht, eine ganz gehörige Giftmischerei.
Im übrigen, sollte nicht vielleicht auch der infernalische Verleumdungsfeldzug, den jetzt in New- york der „Politicien" Hurst gegen die Familie des Bankiers Schiff führt, zum Thema „Russland als Erzieher" gehören . . . ?
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Die polnische Feme.
Die Unduldsamkeit der Polen gegen jeden Versuch, ja gegen jedes Symptom kräftigen jüdischen I^ebens ist ein altes Lied. Sie wissen es aber stets mit neuem Text zu singen. Gerade in den letzten Monaten sind sie wieder sehr schöpferisch gewesen. Das schimpfliche Verhalten der Abgeordneten dieses von den Russen gezüchtigten Volkes in der Duma gegen die jüdischen Mitgezüchtigten ist noch in aller Erinnerung. Aber noch schlimmer ist die häusliche Knechtung, die sie den Juden angedeihen lassen, die unverschämte Aufsicht, die sie sich über die Juden anmassen, die das fragliche Glück geniessen, mit ihnen zusammen zu wohnen und ihnen ihre Städte eingerichtet zu haben.
Studentengeschichten! Aber sie zeigen den Ernst der Situation: In Warschau Hessen-es sich die jüdischen Hörer der Wawelberg'schen technischen Schule, d. h. einer mit jüdischem Stiftungsgelde gegründeten Anstalt, beifallen, zwei Verbrechen zu begehen: Erstens ein in Warschau erscheinendes jüdisches Tagblatt zu seinem zehnjährigen Bestände zu begrüssen; zweitens einen Verein für jüdische Geschichte und Literatur unter sich begründen zu wollen. Darob ein Hallo in der fanatischen polnischen Presse und unter der polnischen Studentenschaft: Auf den Scheiterhaufen mit ihnen! — Leider haben sich die jüdischen Studenten einschüchtern, lassen und sind von Redaktion zu Redaktion gelaufen, um die ihnen zugemuteten Untaten zu dementieren.
Eine zweite solche, noch viel ernsterere Geschichte spielt im österreichischen Polen, in Krakau. Nur haben sich hier die Betroffenen ganz anders verhalten.