Herausgegeben unter Mitwirkung von Dr. S. Bernfeld, M. Buber, Dr. Heinrieh Meyer Cohn, Prof. Dr. Hermann Cohen (Marburg), Dr. Moses Gaster (London), Prof. Dr. Ludwig Geiger, Robert Jaffe, Prof. Dr. D. Joseph, Prof. L. Kellner (Wien), S. Lublinski, Prof. Dr. M. Lazarus, Dr. Rudolph Lothar, Dr. Max Nordau Paris), Dr. Alfred Nossig, Prof. Dr. Martin Philippson, Nahida Remy, Dr. J. Sadger, K. K. Baurat Wilhelm Stiassny (Wien), Dr. Ernst Tuch, Prof. Dr. Otto Warburg, Jacob Wassermann,
Dr. S. Werner (Wien) u. a.
Bezugs- und Insertions-Bedingungen auf der letzten Textseite. Alle Rechte vorbehalten.
HeftS März 1901
„MOSES."
Von Henry George.
Es hat sich bei uns Modernen die Neigung herausgebildet, in den grossen Charakteren der Geschichte mehr das Resultat als die Ursache der jeweiligen Zeitströmungen zu sehen. So wie in früheren Zeiten die grossen geschichtlichen Ereignisse auf Personen zurückgeführt wurden, so thun wir heute das Umgekehrte und versuchen die sagenhaften Heroen der grauen Vorzeit in mythologische Vorgänge aufzulösen.
Dennoch — wenn wir versuchen die Anfänge zu finden von Bewegungen, deren ewige Ursache bis auf die heutigen Zeiten wirkt — stossen wir zuletzt auf das Individuum. Es ist wahr, dass die Verhältnisse den Menschen bestimmen, aber es ist gleichfalls wahr, dass im Anfang aller Dinge Menschen die Verhältnisse schufen.
An einer wohlbekannten Stelle beschreibt Macaulay, welchen Eindruck auf seinen Geist das Alter jener Kirche machte, die, Dynastien und Weltreiche überlebend, zurückreicht auf die Zeiten, da der Opferrauch emporstieg vom Pantheon, und Leopard und Tiger sich zerfleischten im römischen Amphitheater. Und doch existieren noch heute Gebräuche in unserer Mitte, die — in. ununterbrochener Kette überliefert vom Vater auf den Sohn — zurückgeführt werden auf eine weit entfernte Vergangenheit. Jedes Jahr — in jedem Lande der Welt — sammeln zu einer bestimmten Zeit Männer ihre Familien um sich und essen — angethan wie zur Reise — ein schnell bereitetes festliches Mahl. — Bevor noch Rom gegründet war, und bevor Homer sang, wurde dieses Fest gefeiert, und das Ereignis, an das es erinnern soll, war schon damals Jahrhunderte alt.
Dieses Ereignis ist das Eintreten eines in vielfacher Hinsicht merkwürdigen Volkes in die Weltgeschichte — eines Volkes, das niemals ein grosses Reich gegründet, niemals eine Weltstadt gebaut und
doch auf einen grossen Teil der Menschheit einen Einfluss ausgeübt hat, weitreichend, machtvoll und dauernd; eines Volkes, das — 2000 Jahre ohne Land und ohne organisierte Nationalität, dennoch seine charakteristischen Eigenschaften und seinen Glauben bewahrt hat in Leid und Unglück. Dieses Volk ist besiegt, aufgerieben und versprengt worden, es wurde zu Staub zermahlen, zerstreut in die vier Winde des Himmels; und doch, wenn auch Throne gestürzt wurden und grosse Reiche zerfielen, Religionen wechselten und lebende Sprachen ausstarben, — dieses Volk existiert noch mit sichtlich unverminderter Lebenskraft.
Das Auftreten eines solchen Volkes ist eines der epochalen Ereignisse in der Weltgeschichte.
Aber es ist nicht so sehr dieses Ereignis als die Hauptfigur des Führers, die in gewaltiger Grösse uns entgegentritt, wovon ich vorhabe zu sprechen.
Drei grosse Religionen steilen den Führer des Exodus auf die höchste Stufe, die sie den sterblichen Menschen einräumen. Dem Christentum und Islam ebensowohl als dem Judentum ist Moses der Gesetzgeber und das Sprachrohr des Höchsten der Vermittler, ausgestattet mit übernatürlicher Macht, durch den der göttliche Wille offenbart wurde. Aber gerade diese Erhebung, die den Vergleich mit anderen Menschen unmöglich macht, mag uns hindern, die wahre Grösse dieses Mannes zu erkennen. Aus der Mitte seiner Brüder ragt Saulum Haupteslänge hervor.
Und auch die kritische Wissenschaft, welche die Moses zugeschriebenen Bücher und Gesetze in die Zeit nach den Propheten verlegt, führt auf ihn, von dem sie uns fast nichts erzählen kann, die Anregung zurück zu den humanen Zügen des jüdischen Gesetzes, zu der hohen Auffassung von dei Einheit Gottes — aligegenwärtig und ewig — des allmächtigen Vaters.