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Dr. med. Theodor Zlocisti: Soziale Kunst im Ghetto.
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„Tag und Nacht, Ihm die Flüglen anzuheften, Wenn sein heilig Lied erwacht."
Und dieses heilige Lied ist erwacht — es ist das Lied vom neuen Juda, von der Auferstehung des Ahasvervolkes, von der Verjüngung der alten Heimaterde . . das Lied vom jüdischen Mai!
In freien Rhythmen ergiesst sich seine Sehnsucht nach dem Lande der Sonne, und sein ahnungsvolles Dichterauge sieht den jungen Lenz durch die steinigten Zions-Gefilde schreiten, und Blumen und Freuden erblühen unter seinen Füssen. Wie oft hatte er den Blumen, den sonnegeküssten, aus „Aether und Strahlen gewebten Kindern der Erde" geflucht, dass ihr Glanz nur den Satten und Reichen leuchte. Fast hatte er es mit Schadenfreude betrachtet, wie der Herbst die Blüten zertritt und in tosenden Stürmen durch die Wälder rast. Aber recht sehr bitter war diese Schadenfreude. Brannte doch in seiner Seele der Hunger nach den Freuden des Lebens, nach dem fröhlichen Geniessen all der tausendfachen Schönheiten der Natur, die er mit verfeinerten Sinnen betrachtet, und doch nur verstohlen und aus der Ferne betrachten darf. In ihrer Wildheit und Lieblichkeit hat er die Natur belauscht und sie mit vollendeter, in der Jargonlitteratur nie gekannter Meisterschaft besungen. Was das Judendeutsch in der Hand eines echten Künstlers werden kann, zeigen so recht Rosenfeld's Naturschilderungen. Man glaubt den Sturm über das Meer und durch die Halden toben zu hören. Und die Zartheit und der Duft des blumigen Frühlingsgeländes schmeichelt sich uns in weichen Koseworten ins Herz. Dabei wird man immer wieder überrascht durch die Plastik und Neuheit seiner Vergleiche, nach denen ja manche die künstlerischen Qualitäten eines Dichters überhaupt bewerten möchten.
Allein: was immer für Forderungen an einen
Dichter gestellt werden, er erfüllt sie über und ^über. Er ist ein echter Nationalpoet, aus dessen Versen die Seele seines Volkes weint und stöhnt, hofft und sehnt. Werden sie auch seinem Liede lauschen, die seines Stammes Kinder sind? Oder wird sein Lied sein ein Sang in der Wüste, der Stein und Felsen weckt, die Toten aber nicht aufrüttelt, und hätte er auch seine ganze Seele in die Dichtungen hineingegossen? Ihn hat der Zweifel arg geplagt. Ein jüdischer Dichter . . . das ist der Vogel in der Wüste. Wem singt er sein Lied? Wem sagt er sein Leid?
Umsonst is was du fleisst sich, Das kann nit helfen, nein! Allein bist du gekommen, Un west allein vargeihn.
Allein — das glaube er nicht. Seine Verse haben in vieler Herzen Wurzel geschlagen und ein Echo gefunden in vieler Juden Brust. Nicht nur dem Jargonjuden hat er kostbare Stunden gebracht. So mancher hat die Sprache unseres Volkes erst neu erlernt, um Rosenfeld verstehen zu können. Die vielen aber, die den Widerwillen noch nicht überwinden werden gegen den Mischdialekt, werden den Poeten bald auch in hochdeutscher Sprache kennen lernen dürfen. In feinsinniger Form hat Berthold Feiwel die Ghettogesänge nachgebildet, der selbst ein jungjüdischer Dichter ist, selbst ein intimer Kenner der jüdischen Volksseele, selbst durchflutet von dem echt sozialen Empfinden unseres Stammes. In Bälde wird das Buch erscheinen, und Lilien wird es schmücken.
Dass die Hoffnungen sich erfüllen, die wir an das Werk knüpfen!
Die neue jüdische Kunst soll uns wiederbringen, was die lange Ghettonacht verdüstert und verkrümmt, was die Freiheit uns zertrümmert hat —.
Uns selbst!