Juden am Bolschewismus . Trotzdem oder vielleicht gerade
deshalb liest man recht wenig davon in den Zeitungen ,
und zwar nicht nur in jenen , die die publizistische Ver¬
tretung der deutschen Rechtsparteien als ihre Aufgabe
übernommen haben . Auch solche ' Zeitungen , deren auf¬
richtigstes Bekenntnis der Republik keinen Zweifel unter¬
liegt , scheuen sich vielfach , der Fruktifizierung des Bolsche¬
wismus durch die Antisemiten mit der nötigen Entschie¬
denheit entgegenzutreten . Sie verkennen offenbar die Ge¬
fahr , die für unsere ganze innerpolitrsche Entwickelung aus
der Anwendung dieser den politischen Meinungsaustrag
vergiftenden Methode entspringt . Um so nachhaltiger wird
es darum zur Pflicht der Presse , die diese Zusammenhänge
erkannt hat , der Ausnutzung antisemitischer Unwahrheiten
über den Zusammenhang zwischen Judentum und Bol¬
schewismus durch die deutschen Reaktionäre entgegen -
zutreten . _
Bus dem Reich .
Berlin . Answandernngswesen . In Anbetracht
der großen Bedeutung , die in letzter Zeit die jüdische
Emigrationsbewegung aus Ost - Europa erlangt hat ,
sowie in Rücksicht auf die in Pole : : , Rumänien und de : :
vederltendsten kontinentalen Häfen zu erwartenden Ans -
wandererniassen hat die Jewish Colonization Association
( JCA ) eine Konferenz der hauptsächlichsten jüdischen
Aus - und Durchwanderer - Komitees in Europa ein¬
berufen , um das Auswandererproblem einer Prüfung
zu unterziehen und Mittel ausfindig zu machen , um
das Auswanderungswesen zu regulieren und zu kon¬
trollieren .
Die Konferenz hat in Brüssel am 7 . i : nd 8 . Juni
stattgefunden . Es kam zu einem interessanten Austausch
der Meinungen und Erfahrungen der Delegierten ,
und es ist beschlossen worden , unter der Aegide der JCA
die Tätigkeit der verschiedenen Komitees und Orga¬
nisationen zu gemeinsamer Arbeit aufzurufen . Unter
anderen : wurde die Notwendigkeit anerkannt , eine
durchgreifende Beaufsichtigung aller Emigranten in
sanitärer Beziehung , sowohl bei der Abreise , Einschiffung ,
an : Bestimunlngsort wie an bestinnnten Durchgangs¬
stationen vorzuuehmen . llebereinstinunend wurde an¬
erkannt , daß die hauptsächlichste Aufgabe der Komitees
darin bestehen soll , sich nur mit dringenden Füllen zu
beschäftigen , und daß keinerlei Maßnahme getroffen
werden darf , die geeignet wäre , zu unnötiger Aus¬
wanderung anzrreizen .
Berlin . „ Geistige Elite " . Ausschreitungen be¬
trunkener Studenten . Ein sehr häßliches Abenteuer ,
welches der Kaufmann Joachim Sachs uächtlicher -
weise mit einer Anzahl Strrdenten auf den : Kurfürsten -
damn : erlebt hat , lag der Anklage wegen öffentlicher
Beleidigung und schwerer Körperverletzung gegen den
Strrdenten der Maschinenbaukunde Friedrich Zill -
m a n n und den Regierungsbauführer Gerhard Streit
zugrunde . In zweiter Instanz hatte sich kürzlich die
Strafkammer des Landgerichts III , mit dieser wenig
erbaulichen Sache zu beschäftigen . Der Nebenkläger
Sachs ging in der Nacht zum 28 . November gegen
31/2 Uhr den Kurfürstendannn entlang in der Richtung
Halensee . Kurz vor ihm waren an einer Stelle der
Straße etwa zehn Personen aus einem Nachtomnibus
gestiegen , die den ganzen Bürgersteig sperrten und die
Parole ausgaben : „ Wir halten jetzt jeden
an und der erste Jude wird vermöbelt ! "
Bald wurde Sachs umringt und durch Schimpfworte
belästigt . Er behauptet , man habe von ihm gefordert ,
den Hut abzunehmen , um zu kontrollieren , ob er ein
Jude sei : er erklärte darauf , daß er gar kein Hehl daraus
mache , Jude zu sein und bat , ihn in Ruhe zu lassen .
Dann hat Z i l l m a n n den Nebenkläger „ I u -
d e n a a s " geschimpft , ihn : einen Fußtritt in die Miste
und Streit ihm einen Faustschlag ins Gesicht versetzt ,
so daß er starken Blutverlust hatte . Streit hat dabei
noch gesagt : „ Solche feige Bande muß man verdreschen ! "
Der Nebenkläger schrie nun un : Hilfe und lockte dadurch
zwei Sicherheitsbeamte herbei , die an Ort und Stelle
aber nur noch den Zillmann sestnehmen konnten ; die
übrigen halten sich bereits entfernt . Als dann der Neben¬
kläger in Begleitung des einen Sicherheitsmannes
seiner Wohnung zusteuerte , lies ihm zufällig der zweite
Angeklagte in den Weg , der nun auch festgenommen
wurde .
Als die Angeklagten durch die Vorladung vor
Gericht sahen , daß die Sache eine ernste Wendung
nahm , schickten sie dem Nebenkläger eine Entschuldigung
zu , die dessen Vertreter , I u ft i z r e t D r . Wert -
Hauer , aber nur annehmen wollte , wenn die An¬
geklagten die Erklärung abgüben , daß ihr Vorgehen
nicht antisemitischen Tendenzen entsprungen sei . Da
dies nicht geschal ) , kan : es zur Hauptverhandlung
vor dem Schöffengericht . Die Angeklagten entschuldigten
sich bannt , in sehr animierter Stimmung aus ihrer
Kneipe gekommen zu sein , wo ein Kommilitone seinen
Abschied begossen habe . Daß sie betrunken gewesen
seien , gehe schon daraus hervor , daß Zillmann seine
Soldatenmütze aufgesetzt hatte .
Das Schöffengericht verurteilte beide An¬
geklagte zu je 2 0 0 M a r k Geldstrafe , Zillmann
außerdem wegen Widerstandes zu 50 Mark Geldstrafe . —
Wegen des Strafmaßes hatte Dr . Wert Hauer
Berufung eingelegt . Er hielt die Strafe für viel
zu gering , weil es sich hier doch um eine große
Roheit handele , da zehn Menschen der sogenannten
gebildeten Klasse über einen einzelnen , der sich durchaus
korrekt benomnren , hergefallen seien .
Der Verteidiger Rechtsanwalt A r e n s gab zu ,
daß sich bedauerlicherweise die Angeklagten als Studenten
sehr unwürdig und unmanierlich be -
nomrnen Hütten , bat aber , aus einer offenbar betrunkenen
Mücke nicht einen antisemitischen Elefanten zu rnachen .
Das Gericht verurteilte die Angeklagten zu je 10 0 0
Mark Geldstrafe , da es sich doch un : einen sehr
üblen Exzeß handele .
Görlitz . Die Stadtverordnetenversanunlung ge¬
nehmigte in ihrer letzten Sitzung die Festsetzung der
Vergütung für den jüdischen Religionsunterricht an den
höheren Lehranstalten und der Mittelschule , soweit er
von akadenüsch gebildeten Lehrkräften erteilt wird ,
auf 18 Mark pro Stunde .
Gießen . Zu den in diesen : Blatt kürzlich mitgeteilten
Vorfällen der Gießener Universität gibt jetzt der Rektor
folgendes bekannt : „ 1 . cand . : ned . F a l k e n st e i n wurde
wegen tätlicher Beleidigung eines Kvmnnlitionen durch
schwere Körperverletzung durch einmütigen Beschluß des
engeren Senats dauernd von der Landesuniversität aus¬
geschlossen . Der diesen : Beschluß zugrunde liegende Vor¬
fall spielte sich am 28 . April 1020 ab . Bei der Behandlung
des Falls durch die Gerichte ist auch in der zweiten Instanz
nicht Freisprechung erfolgt ; vielmehr wurde Herr Falken¬
tein in dieser verurteilt , und zwar zu 500 Mark Geld -
träfe . Es ist nicht richtig , daß die Universität „ auf Grund
des unhaltbaren und von - er zweiten Instanz aufgehobenen
Schuldspruchs ohne weiteres relegiert hat " . Gegen die
Ausschließung hat Herr Falkenstein alsbald Beschwerde
bei dem Landesamt für das Bildnngswesen in Darmstadt
eingelegt . Die Entscheidung über diese Beschwerde ist noch
nicht ergangen , und nur damit hängt es zusammen , daß
Herrn Falkenstein satzungsgemätz seine Exmatrrkel noch
nicht ausgehändigt werden konnte . 2 . Wogen des Vorfalls
im Juli 1920 , wobei ein Zusammenstoß des Herrn Falken¬
stein mit mehreren Studenten stattfand , wurde Anzeige an
den Senat erstattet , in welcher drei Studenten genannt
waren . Der eine von diesen studierte nicht in Gießen , gegen
die beiden anderen wurde alsbald das Disziplinarverfahren
eröffnet und damit die Exmalrikel gesperrt . Später er¬
klärte Herr Falkenstein selbst auf der Polizei , daß die An¬
zeige gegen den einen der Beschuldigten aus einer Ver¬
wechselung beruhe , gegen diesen wurde das Disziplinar¬
verfahren eingestellt und ihm die Exmatrikel ausgehändigt .
In : übrigen ist das Diszipplinarverfahren in dieser An¬
gelegenheit noch anhängig . " — Zu dem anderen auch hier
gemeldeten Vorfall , wobei in Gießen mehrere Studenten
einen Reisenden schwer mißhandelt haben sollen , teilt das
Rektorat mit , daß laut Mitteilung des dortigen Polizei -
amts den : Bericht nur ein Streit zwischen einem Zahn¬
techniker und einem Geschäftsreisenden zugrunde liegen
könne , an den : Studenten in keiner Weise beteiligt feien .
Den : Landtage des Bolksstaates Hessen ist unter
Bezugnahme auf die antisemitischen Exzesse an der
Umversität Gießen folgende Anfrage der Abgeordneten
Bauer und Genossen zugegangen : „ Das rüpelhafte
Verhalten gewisser Studenteukreise in Gießen und das
unerhörte Verhalten der Senatsbehörde in Gießen ,
bei der im Anschluß an den Fall des jüdischen Studenten
Falkenstein ^ in Gießen getroffenen disziplinären Ent¬
scheidung ist geeignet , das Ansehen der Gießener Hoch¬
schule zu schädigen . Was gedenkt die Regierung zu tun ,
un : diese Mißstände zu beseitigen und damit eine weitere
Schädigung des Ansehens der Gießener Hochschule
zu verhindern ? "
Kirchhain . Eine von jeher hier bestehende Ungerech¬
tigkeit gegenüber den jüdischen Bürgern wird jetzt endlich
beseitigt werden . Wie in zahlreichen Gemeinden Kurhessens
besteht auch hier ein sog . - Gemeindenutzen , aus welchen :
alljährlich Graslose an einen Kreis von Interessenten ver¬
teilt werden . Die Teilnehmer werden auf ihren Antrag
durch den Magistrat zugelassen , und zwar die eingeborenen
Bürger ohne ' weiteres , die zugezogenen gegen ein geringes
Einkaufsgeld . Jüdische Bürger wurden aber bisher , wenn
sie sich meldeten , grundsätzlich abgelehnt . Die Stadtver¬
waltung wollte das Recht zur Teilnahme den christlichen
Einwohnern allein gewahrt wissen . Alle Anträge und
Beschwerden von jüdischer Seite in früherer Zeit waren
fruchtlos . In : Jahre 1919 wiederholten nun fünf jüdische
Bürger ihre Anträge auf Zulassung zum Gemeindenutzen ,
und als diese wiederum abgelehnt wurden , ließen sie durch
RechtsaMvalt Dr . Weisbecker in Cassel den Beschluß des
Magistrats mittels einer Klage in : Verwaltungsstreitver -
sahren anfechten . Das Oberverwaltungsgericht zu Berlin
hat nunmehr als letzte Instanz entschieden , daß der bis¬
herige Ausschluß der Juden ungesetzlich sei , und daß diese
ebenso zur Teilnahme znzulassen seien , wie die christlichen
Bürger .
11 . . _ einer allen Jtau .
2 . Fortsetzung .
Zwei Ereignisse hatten sich jedoch noch vorher meiner Erinne¬
rung unvergeßlich eingeprägt . Eine Großtante meiner Mutter , die
„ Muhme Chawe Gitel " . war „ Gabbette " , und die kleine , rundliche ,
kinderlose Fran erwies sich allen denen , die „ mühselig und beladen " ,
als ein wahrer Engel der Milde und Barmherzigkeit . Ihre Beerdi¬
gung am zweiten Tage des Roschhaschanah — Neujahrsfestes — legte
Zeugnis ab von der hohen Wertschätzung , die sie in allen Kreisen
genoß . Ich vermeine noch den unabsehbaren Leichenkondukt bor mir
zu sehen . Ihr Andenken hat in Lissa lange in Segen fortgelebt .
Im Loinmer 1855 kam der Prinz von Preußen , nachmaliger
Kaiser Wilhelm 1 . , auf der Fahrt zu den Jagden des Fürsten
Sulkowski nach Reisen , zu kurzem Aufenthalt nach Lissa . Die Stad !
war mit Fahnen und Laubgewinden festlich geschmückt und von einem
Fenster am Marktplätze sah ich die Auffahrt zum Rathause .
In Lissa , der Stabt , in der zwei Jahrhunderte zuvor der be¬
rühmte Schulmann und Begründer der modernen Pädagogik als
Wissenschaft , Eomenius , gelebt hatte — das Lissaer Gymnasium
erhielt später seinen Namen — sollte auch das Mädchenschulwesen zu
hoher Blüte gelangen . Tie aus Thorn , der Heimat des berühmten
Astronomen Kopernikus , stammende Lehrerin , Fräulein Auguste
Killer , hatte 1824 in meiner Baierstadt eine Töchterschule errichtet ,
die sich bald über die Grenzen der Probinz Posen hinaus des besten
Rufes erfreute und die sie vierzig Jahre mit hoher Intelligenz und
bewundernswerter Energie geleitet hat . Die Schule wurde von zahl¬
reichen jüdischen Mädchen besucht und es herrschte das beste Ein¬
vernehmen Mischen diesen und den christlichen Mitschülerinnen , von
Antisemitismus zeigte sich auch nicht die geringste Spur ; wir ver¬
kehrten ebenso herzlich mit den Töchtern der beiden evangelischen
Geistlichen , als mit den katholischen Polinnen , deren viele in Lissa
lebten . Die Lehrer des Gymnasiums erteilten in den höheren Klassen
Unterricht in den Hauptfächern , so auch u . a . der spätere Professor
Töplitz , der Begründer einer Mathematiker - Dynastie ; sein Sohn
Emil starb vor wenigen Jahren als Professor und Oberlehrer des
Johannes - Gymnasiums in Breslau , ßin Enkel lehrt als Professor
der Mathematik in Göttingen .
In den unteren Klassen mar ich nichts weniger als eine her¬
vorragende Schülerin : die französischen Konjugationen machten mir
viel Kopfzerbrechen , der deutsche Aufsatz und Rechnen waren meine
schwachen Seiten , hingegen interessierte ich mich lebhaft für die
Biblische Geschichte — in " das alte Testament wurden wir gemeinsam
mit den christlichen Mitschülerinnen von einer sehr hübschen , jungen ,
christlichen Lehrerin eingesührt ; hieraus erwuchs später meine große
Borliebe für Geschichte und Literatur , wie für Geographie . Mittler¬
weile hatte sich meine Beobachtungsgabe für meine Umgebung ge¬
schärft , mein Vorwitz war fast Verwegenheit geworden und meine
Lesewut , die frühzeitig erwacht war , hatte sich in einer für meine
Mutter geradezu unheimlichen Weise gesteigert , der sie jedoch ganz
machtlos gegenüberstand . Ter einzige Bruder meiner Mutter betrieb
eine große Kürschnerei . er starb als Obermeister der Lissaer
Kürschnerinnung zu Anfang unseres Jahrhunderts in hohem Alter .
In Lissa wurde als Spezialität von verschiedenen angesehenen jüdischen
Firmen die Zurichtung von Kaninchenfellen in eigenartiger Weise
betrieben , die dann auf der Leipziger Nässe nach Frankreich und
Amerika glänzend Absatz fanden . Ter Großvater mütterlicherseits ,
ebenso klug als fromm , und zwar sehr streng fromm - - vielleicht
tönte damals schoit „ orthodox " an mein Kinderohr — hatte mit
seinem Schwager schon damals ein sehr bedeutendes Ranchwaren -
geschäft , das seit Jahrzehnten den besten Ruf am Orte selbst , wie auf
den regelmäßig besuchten Blessen in Leipzpig und Frankfurt , wie den
Breslauer Märkten genoß . Das Ergebnis der Leipziger Ostermesse
war nicht nur stets auf lauge hinaus von beöaitcubem Einfluß auf
des Großvaters und seines Teilhabers Sttmmung , sondern auch auf
die gar vieler Kausleute in ittssa , deren Geschäft von den Messen
a . ' - hängig ) var
Im Jahre 1857 wurde die Eisenbahnstrecke Breslau - Posen
eröffnet und die Mutter fuhr mit mir und meiner Schwester zum
Besuche der Verwandten nach der wenige Meilen von Lissa entfernten
Stadt Kosten , in der die älteste Schwester meines Vaters , die einen
Vetter geheiratet hatte , in kinderloser , jedoch idealer Ehe lebte . Diese
erste Eisenbahnfahrt bildete natürlich ein Ereignis in meinem Leben .
Tante und Onkel in Kosten sind von mir bis zu ihrem Ende sehr
verehrt worden , namentlich die Tante war in Wesen und Erscheinung
reizend ; das alte Liebespaar konnte die goldene Hochzeit begehen ,
zwei Pflegetöchter und deren Kinder ersetzten - eigene Kinder nutz
Enkel und eine Schar von Neffen und Nichten , wie deren Kinder
umgab das greise Paar , das seine letzten Lebensjahrzehnte in Stettin ,
wo es sich ein neues Heim aufgebaut hatte , verlebte . 1891 war es
mir vergönnt , mich in Kolberg vier Wochen des innigsten Verkehrs
mit diesem trefflichen Paare erfreuen zu dürfen . Im Frühling 1857
hatte ich die Masern und war sehr unglücklich , der Verlobung meiner
jüngsten Tante , da ich noch in der Genesung mich befand , nicht bei¬
wohnen zu können . Die Tante hatte mehrere Jahre ein „ Verhältnis "
mit ihrem Vetter , - - dos hatte ich natürlich , wie so vieles andere ,
„ aufgeschnappt " , — der ein ganz vorzüglicher Mensch von seltener
Befähigung und ungewöhnlicher Herzensgüte , schon damals als Jude
Reisender bei der hochbedenteuden christlichen Firma Christian Tierig
in Langenbielau war , und dort hohe Wertschätzung genoß . Der
Großvater hätte gegen die Persönlichkeit dieses Freiers seiner Tochter
nichts einzuwenden gehabt , aber dieser hatte in großherzigster Weise
für seine Stiefmutter , die kurz zuvor nach dem Tode seines
Vaters , verwitwet , mit neun minderjährigen , verwaisten Kindern
zurückgeblieben war , übernominen , und der Großvater gab
willig den Einflüsterungen seines einzigen Sohnes , die junge
Schwester stehe im Begriff , sich durch eine Heirat mit „ einem Witwer
mit neun Kindern " viel Sorgen aufzubürden , Gehör . Hierzu kam ,
daß der Nesse , obgleich er ein treuer Jude war , nach des Großvaters
Anforderungen , selbst bei rnildernden Umständen , doch gar sehr wenig
von den vorgeschriebenen Gesetzen und Gebräuchen hielt und halten
konnte , wie später es in dem Hochzeitscarmen , den Vetter Abraham
Biberfeld gewidmet hatte , hieß : „ halb scheint er ein Goi mir zwar ,
doch hat Schem borchu gelenket , sag ' ich Maseltow fürwahr " . So
BE — i wm ;
butte das junge Paar lange zu kämpfen , bis es den Widerstand des
Großvaters besiegte . Idealer hat selten ein Mensch seine Pflichten ,
die er freiwillig übernommen , erfüllt , als dieser von mir so innig
verehrte Onkels seine Gattin hat ihn jederzeit treulich in der Für¬
sorge für die Seinen unterstützt und in seinen erwachsenen Brüdern
fand er dann später Hilfskräfte für sein Liebeswerk ; idealer ist selten
eiri Verhältnis gelvcsen , als das seilte zu seinen Geschwistern und zu
seiner Gtiefinuter , deren Dankbarkeit unbegrenzt war , und auf das
Haupt seines Schwiegervaters hat er in der Folge durch sein stets
ehrerbietiges Verhalten gegen diesen feurige Kohlen gesammelt . In
demselben Sommer fuhr meine Mutter mit dem Großvater und der
^ . ante - Braui nach Altwasser , und da Langenbielau so nahe , konnte das
Brautpaar nach der langen Zeit des Hangens und Bangens den
herrlichsten Liebessrühling genießen ; eine böse Frau aus Breslau ,
— ich habe sie später sehr gut gekannt , — hinterbrachte dort einmal
dem Großvater , das Brauch, - aar habe auf irgend einer Partie „ trefe "
gegessen , was seinen Zorn nicht wenig erregte . Meine Schwester und
ich waren in Abwesenheit der Mutter zu den großen Ferien nach
Rawitsch geschickt worden . Dort verlebten wir herrliche Tage , das
gütige , kinderlose Paar verwöhnte uns grenzenlos , der Onkel reiste
oft nach Breslau , Raiibor und Wien , brachte das schönste an Zucker¬
werk , Kuchen und Spielsachen mit und die Tante richtete uns sogar
eine ganz wahrhaftige Puppenhochzeit aus . — die Braut in weißem
Kleide mit Schleier und Kranz , der Bräutigam fein in Leder ge¬
kleidet , - - zu der wir unsere kleinen Freundinnen entladen durften ,
die entzück ! waren . Die Mutter versicherte damals , wie noch lange
Jahre in der Folge , wenn wir aus Rawitsch kämen , hätte sie stets
zu „ erziehen " , so sehr waren wir „ verzogen " . O über das „ Erziehen "
der Mutter . Tank und Segen sei ihr hierfür noch heute über das
Grab hinaus ! Damals war die „ Erziehnngslehre " der Mutter ,
gewöhnlich wenn sie uns die Zöpfe flocht . — wir hatten beide
schönes , volles Haar , — am Bärgen , ehe wir uns zur Schule rüsteten ,
uns nichts weniger als angenehm und wir nannten diese „ Morgen¬
andachten " oder „ Predigten " . Kurz darauf erhielt meine Tante von
ihrem Bräutigam den soeben erschienenen „ Narziß " von Brachvogel
in zierlichem Goldschnittbändchen . Das Büchlein lag bei den Gro߬
eltern in der „ blauen Stube " aus einem kleinen Tische mit schönem
Bilde , das der Sohn von einer Reise aus Erdmannsdorf mitgebrach :
hatte und das stets meine Bewunderung erregt hatte . Dieser
„ Narziß " bedeutete für mein Kindergemüt „ Gelegenheit macht Diebe "
und entfachte erst so recht eigentlich meine Lesewut . Ich faßte sehr
schnell , lernte besonders leicht Gedichte und bald wußte ich ganze
Szenen von der Pompadour und Choiseul auswendig , die ich dem
„ Großen " „ vormachte " . Einige Monate später gab die Schauspieler¬
truppe , die alljährlich meine Vaterstadt für einige Wochen besuchte ,
den „ Narziß " , und ich erbat , erflehte und ertrotzte , daß ich ins Theater
mitgehen durfte ; hier erwies sich die Tante , die sonst noch bei weitem
strenger war als meine Mutter , als ausschlaggebend , indem sie meine
Bitte zu erfüllen zuredete . Diese Aufführung des „ Narziß " ist bis
zur Stunde ein unauslöschlicher Eindruck in mir geblieben ; ich habe
später Dawison und Barnay in dieser Rolle gesehen und mich jener
, ersten Darstellung stets lebhaft erinnert . ( Fortsetzung folgt . -