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JUEDISCHE RUNDSCHAU
Nr. 87, 1. XI. 1627
aus dem Lande vertrieben oder aber einem fremdnatio- nalen Regime unterjocht zu werden. Der arabische Widerstand drohte dem Gedanken der jüdischen Heim- stiitte politisch und moralisch schwere Schläge zu ver- setzen. Es bedurfte der überlegenen britischen Staats- kunst, uni in Ruhe und Nüchternheit den Tatbestand vor aller Welt klarzustellen. Die Ansprüche der Juden auf ihr nationales Heim, das völkerrechtlich gesichert ist, und sich durch ständige Einwanderung vergrößern muß, wurden nicht verletzt, zugleich aber wurde klar ausgesprochen, daß die bestehende Bevölkerung Pa- lästinas nicht entnationalisiert oder bedrückt werden soll, sondern gleichfalls in ihrer nationalen Entwicklung ge- schützt wird. Die ersten fünf Jahre nach der Balfour- Deklaration waren erforderlich, um die politische Lage zu klären. Wertvollste, kostbare Zeit ging verloren, ln jener Zeit der Gärung hätte manches Bleibende ge- schaffen werden können. Es ist müßig, heute darüber zu klagen. Wir wissen, daß jene fünf Jahre, in denen die Er- schatterungen des Krieges nachzitterten, für die ganze Welt verhängnisvoll war. Vieles, was vorher verheißen worden war, zerfiel in nichts oder wurde seines Gehaltes entkleidet. Nach fünf Jahren wurde von der englischen Regierung der Begriff des Nationalen Heimes näher defi- niert, das Mandat wurde vom Völkerbund bestätigt, den Juden wurde die Chance gegeben, ihr Gemeinwesen auf- zubauen. Bald darauf setzte die große Einwanderung ein.
V.
Nicht alle glaubten daran, daß die Juden den Willen und die Kraft haben werden, ihre Heimstätte aufzu- bauen. Der elementare Drang nach Palästina, die Scharen von Chaluzim, die bedingungslose Hingabe an die zio- nistische Idee, der wachsende Kapitalzustrom — dies alles waren Argumente, die die Welt in Staunen ver- setzten. Als das englische konservative Kabinett, das der Kriegskoalition folgte, ein Komitee zur Ueberprüfung der Palästinapolitik einsetzte, mußte dieses anerkennen, daß die von den Juden geschaffenen Tatsachen eine zio- nistische Palästinapolitik rechtfertigen.
Das nationale Heim kann nur von den Juden selbst, durch ihre eigene Kraft geschaffen werden. Die roman- tischen Vorstellungen, England hätte durch die Balfour- Deklaration den Judenstaat gegründet, bedurften einer Korrektur im Volksbewußtsein. Man mußte erst lernen, daß eine politische Chance noch keine Erfüllung ist und daß die Arbeit selbst viel Kraft und Geld kosten wird, auch viel Geduld, Rückschläge zu ertragen. Dies gerade ist ein notwendiger Erziehungsprozeß für ein politisch entwöhntes, für staatsbildende Aufgaben nicht geschultes Volk. Das Ideal vor Augen, die Inbrunst der Zionsliebe im Herzen, so mußte das Volk allen Anforderungen, aber auch allen Enttäuschungen standhalten können.
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bloße Deklaration. Wir Juden sind ein Volk der Ideen, des abstrakten Denkens, wir lassen uns durch die Schön- heit eines Gedankens bezwingen und sind befriedigt, wenn unsere Idee sich durchsetzt. Die Proklamation der Rechte des jüdischen Volkes erschien uns als das Wesentliche. Nur wenige waren es, die schon frühzeitig darauf hinwiesen, daß die Balfour-Deklaration die Form konkreter wirtschaftlicher Zugeständnisse hätte anneh- men müssen. In Deutschland war Martin Buber einer der Wenigen, die dies mit Nachdruck betonten. Es zeigte sich später, daß sie recht behalten haben. Um den eigentlichen Inhalt der Balfour-Deklaration, nämlich die konkreten wirtschaftlichen Voraussetzungen für jüdische Arbeit und vermehrte Einwanderung, kämpfen wir noch heute.
Die Verpflichtung könnte so gemeint gewesen sein, daß England bei den Friedensverhandlungen eine Ord- nung in Palästina durchsetzen will, die die Schaffung einer jüdischen Heimstätte umschließt. Dies wäre viel- leicht denkbar, wenn nicht England gleichzeitig der Er- oberer und der Verwalter Palästinas gewesen wäre. Hat England den Auftrag übernommen, die von ihm selbst formulierte Aufgabe auszuführen, dann ist diese Ver- pflichtung nicht eine rein formale, sondern gewisser- maßen eine permanente. Denn gerade bei der Verwal- tung, In der täglichen Praxis der unzähligen Spezial- zweige und Tätigkeiten einer Landesregierung, ergibt sich die Gelegenheit zur Förderung des ausgesprochenen Zieles, die Gelegenheit, die Errichtung der nationalen Heimstätte ״ zu erleichtern“.
Es gab in den letzten Jahren viel Streit darüber, ob England diese Verpflichtung erfüllt habe oder nicht. Sicher hat England noch nicht alle Bestimmungen des Mandates, besonders der Artikel 6 und 11, durchgeführt und wir Zionisten sind berechtigt, diese Haltung der Mandatarmacht zu kritisieren, unsere konkreten Forde- rungen immer wieder vorzutragen, eine der Grund- tendenz des Mandates entsprechende Verwaltung zu for- dern. Es war anno 1917 und 1920 viel von dem ״ ge- meinsamen“ Unternehmen von Juden und Engländern die Rede, die in der Palästina-Sache aufeinander ange* wiesen seien. Die Engländer wissen, daß ohne ihre Hilfe die jüdische Aufbauarbeit zu großen Hindernissen begegnet. Wir Zionisten haben seit Jahren diese Hilfe gefordert, sie wurde uns in manchen Dingen zuteil, manche Forderungen figurieren seit sieben Jahren auf der Liste der Zionistischen Exekutive und kommen nicht vorwärts. In manchen Dingen auch bestehen Meinungs- Verschiedenheiten darüber, was dem Lande und seinem Fortschritt frommt. Wir haben in den letzten Tagen ein krasses Beispiel: Der syrisch-palästinensische Handelsvertrag, der auf alle aus mehr als 75«/# eingeführtem Rohmaterial hergestellten Waren einen Zoll
ln der Landesvorstands-Sitzung Antrag ör. Landsberg-u/lesDadan
Der Landesvorstand weist erneut und im Hinblick auf die gegenwärtige Situation in Palästina mit besonderem Nachdruck auf die Notwendigkeit
intensivster K.H.־Arbeit
innerhalb des deutschen Zionismus hin. In der Überzeugung, daß die Stoßkraft zionistischer Propaganda von dem aufrichtigen und ehrlichen Willen aller Zionisten zu letzter Opfer- bereitschaft für Palästina abhängig ist, beauftragt der Landesvorstand den Geschäftsführenden Ausschuß in eng- stem Kontakt mit der Obersten Ver- trauenskommission unausgesetzt über
die Erfüllung der Maafierverpflichtung
zu wachen und alle Maßnahmen zu treffen, um die Durchführung des Maaßerprinzips sicher zu stellen.
Einstimmig angenommen!
legt und so diese Produktion doppelt besteuert, droht eine Anzahl von neuen Industrien, die auf den syrischen Markt angewiesen sind, zu vernichten. Wird der Vertrag Wirklichkeit, werden manche Industrielle ihre Unter- nehmungen auf französisches Mandatsgebiet verlegen müssen. Ist das im Sinne des Mandates, im Interesse des Wohlstands Palästinas? Wir höffea zwar* daß es gelingen wird, noch׳ im letzten abzuändern, aber das Beispiel zeigt, welcher Art die jüdische Kritik (die in diesem Fall auch von vielen Ara- bern geteilt wird) ist, wenn wir das Versprechen, die jüdische Heimstätte zu ״erleichtern“, nicht mehr in der Sphäre der Deklarationen, sondern in der der tagtäg* liehen Verwaltung überprüfen.
VII.
Wir sind in diesen zehn Jahren erheblich weiter« gekommen. Tausende Juden sind nach Palästina gekom- men, blühende Dörfer sind entstanden, die hebräische Sprache hat sich durchgesetzt, nationale Gemeinschafts- Institutionen wurden gegründet. Schon heute, wo wir in den ersten Anfängen stehen, fühlt sich der Jude nir- gends so frei, so unbefangen, so zu Hause, wie in Pa- lästina. Der Gedanke der nationalen Heimstätte hat be- reits begonnen, sich ins Leben umzusetzen. Je mehr wir ins wirkliche Leben eintreten, um so mehr haben wir zu kämpfen, um so größere Schwierigkeiten ergeben sich; dies ist ein Beweis für unsere Mündigkeit, ein Beweis für die Wirklichkeit unserer Sache, die sich von der Schemenhaftigkeit anderer jüdischer Betätigung prin- zipiell abhebt. Gerade heute sind wir in einem Zustand der Stagnation, der durch übermäßige Anspannung un- serer Kräfte entstanden ist. Es muß ein Ausgleich an- gestrebt werden, damit dann auf Grund all der Erfahrun- gen der letzten Jahre, auf Grund der intimeren Kenntnis die wir vom Lande gewonnen haben, die weitere Ent* Wicklung vor sich gehen kann.
Die größte Bedeutung der Balfour-Deklaration liegt vielleicht darin, daß sie den Juden wieder eine Auf- gäbe gestellt hat. Den Juden als Gesamtheit, eine kontrollierbare Aufgabe, an deren Erfüllung von nun an Tüchtigkeit und moralische Kraft des Judentums ge- messen werden. Dies ist eine ungeheure moralische Chance des Judentums. Wird sie verspielt, dann wird das ganze Judentum die Folgen zu tragen haben. Wenn aber, wie wir hoffen, die Kräfte des Volkes sich immer mehr und mehr um dieses Ziel sammeln, wenn man unsere ehrliche Arbeit sieht, die wie alles Menschliche nicht immer erfolgreich sein muß, aber von Stufe zu Stufe mit ungebrochenem Willen fortschreitet, dann wird eine neue Zelt für das jüdische Volk anbrechen. Eine Zeit selbständiger schöpferischer Tätigkeit auf eige- nem durch die Geschichte von Jahrtausenden der Seele des Volkes verbundenen Boden. Das jüdische Volk wird der Gemeinschaft der Völker wieder als ehrliches Mit- glied eingegliedert sein. Besinnen wir uns am zehnten Jahrestag der Balfour-Deklaration dieser Situation, der wir nicht entrinnen können. Das Schicksal des Juden״ tums ist zum ersten Male nach jahrhundertelanger Passi- vität dem jüdischen Volk selbst wieder in die Hand ge- geben wollen. R. W.
Sokolow in Rom
Rom, 28, Oktober, (J. T. A.) Der Präsident der Zionistischen Welt, exekutive, Nahum So. kolow, wurde gestern vom Papst in länge, rer Audienz empfangen. Der Papst interessierte sich sehr für das jüdische Aufbauwerk und erklärte, die Kurie würde überall für die unterdrückten Juden eintreten.
Heute wurde Nahum Sokolow vom König im Königlichen Palais Victor Emanuel zu San Ressore in Audienz empfangen. Sokolow und seine Tochter, Fräulein Celina Sokolow, waren Gäste des Königspaares.
Nach dem Urteil
Von Moses Wald mann.
Paris, 27. Oktober 192T.
Das Urteil Ist gefällt, Schwarzbart ist frei.
Es erübrigt sich, noch einige Bemerkungen über den eigen, liehen Gegenstand des Prozesses zu machen. Schwarzbarts Schicksal war wohl schon entschieden, als Torräs auf die Vor- führung weiterer Zeugen verzichtete. Freilich, diese Erklärung des Verteidigers erfolgte ohne Einvernehmen mit dem Ver- teidigungskomitee, das in der langen Zeit vom Datum des Attentats bis zur Verhandlung lediglich eine Hilfsaufgabe zu erledigen, im übrigen aber gegenüber dem durchaus eigenwilligen Tonis, der ja nicht vom Verteidigungskomitee, sondern von Sa- muel Schwarzbart mit der Führung des Prozesses betraut wurde, einen schweren Stand hatte. Torrfes sah nur seine Anwalts- aufgabe: seinen Klienten freizubekommen. Das Verteidigung?* komitee setzte sich neben der selbstverständlichen des Anwalts noch eine zweite: durch den Prozeß in Paris das Welt- gewissen aufzurütteln und möglichen kommenden Pogromen vorzubeugen. Für diese zweite Aufgabe hatte Tonis leider kein Verständnis, desgleichen auch keines für die exzeptio* nelle Lage des jüdischen Volkes, das sich entschieden dagegen verwahren muß, daß von selten des Verteidigers im Prozeß Töne des Hasses und der Pauschalverdächtigung gegenüber dem gesamten ukrainischen Volk angeschlagen wurden und daß Petl- jura der ״ Vorwurf“ gemacht wurde, er sei deutschfreundlich gewesen. Leider hat man In dieser Hinsicht und in vielen anderen auch auf den, milde ausgedrückt, störrischen Torrts keinen Einfluß nehmen können. Es muß hier ausdrücklich fest* gestellt werden, daß das Verteidigungslcomitee keinerlei Ver* aatwortung für diese Seüenspr&nge des Torrts za übernehmen ־ ■tehnir ־׳ ttfji . stetiepier tar4 ״ «} ;s§ipj*,
; !tscl Jidllch« : d^Äozesses ; stt'i«tMen,-'dhne'indere,‘fta übrigen vöUig ungerechte und deplacierte Momente in die Debatte zu ziehen.
Durch den Zeugenverzicht des Verteidigers ist leider die Führung des unzweideutigen, schlüssigen Beweises von der persönlichen, direkten und nicht nur politisch* moralischen Verantwortlichkeit Petljuras vor der Pariser Jury verhindert worden. Der Beweis dafür ist aber vorhanden. Es weilen in Paris zwei Zeugen, nichtjüdische Polen, die folgendes auszusagen hatten: Der eine ist als Attache des dänischen Roten Kreuzes einige Tage nach dem Pogrom in Proskurow anläßlich einer Audienz bei dem nach Proskurow gekommenen Petljura, Ohren* und Augenzeuge eines Rapportes des Hauptschuldigen am Proskurower Pogrom, des Atamans Semossenko gewesen, der seinen Bericht mit folgenden Worten begann: ״ Herr Oberataman, gemäß Ihrem Befehle haben wir um die Mittagszeit mit der Exekution begonnen...Petljura äußert verlegen (wegen der Anwesenheit des Polen) unterbrach mit der Frage: ״ Was haben denn die Bolschewisten gewollt?“ Darauf Semossenko: ״ Nichts haben die Juden gewollt...“ Der zweite Pole war Bürgermeister von Proskurow und wandte sich beschwerdeführend an Petljura; dieser bezeichnete die Aktion als Vergeltung und lehnte jede Intervention ab.
Aber vielleicht ist es besser, daß die schrecklichen Oe- 9chehnisse nicht weiter behandelt werden, um nicht noch mehr Verbitterung in die Beziehungen zwischen Juden und Ukrainern zu tragen. M o t z k i n s Ausspruch in seiner Zeugenaussage ״ wir haben drei Millionen Geiseln inmitten des ukrainischen Volkes“ beleuchtet blitzartig die ganze Tragik unserer Lage. Wir dürfen und können uns nicht einmal restlos beklagen.
Der Verlauf des Prozesses bis zum überraschenden Verzicht Henry Torr&s auf weitere Zeugen hat aber genügend aufgeklärt. Das Interesse der Pariser Presse hielt die ganze Zeit ur.ver- mindert an. Der Schwarzbart-Prozeß verschwand zehn Tage lang nicht von den Titelseiten. Wer das Sensationsbedürfnis der hiesigen Presse kennt, vermag das abzuschätzen. Das gleiche ist in Amerika der Fall und soweit man von hier aus zu beur- teilen vermag, konnte man ähnliches in Oesterreich, Polen, Belgien, Italien, Rumänien, Deutschland und England beob- achten.
Der Prozeß hat also genug Aufklärungsarbeit geleistet. Dazu haben die weniger jüdischen Zeugenaussagen außerordent- lieh viel beigetragen. Alle Depositionen waren würdig, zurück- haltend und auf ein ungeheures Tatsachen- und Dokumenten- material gestützt Das schuf Im Verhandlungssaale für die Juden eine überaus günstige Stimmung beim Gerichtshof, den Oe- schworenen, den Journalisten und dem Heer von Pariser An- wüten, die gespannt den Verhandlungen folgten. Schließlich zogen sich in dieser Atmosphäre die Vertreter der Privat- beteiligten Campinchi und Wilm sowie der Prokurator ganz in die Defensive zurück; sonst hätte ihnen ein Orkan von all- seitiger Ablehnung entgegengefaucht
Schwarzbart selbst vergaß man in diesen Tagen voll- ständig. Er trat ganz in den Hintergrund. Das ist gut so. Denn heute, und hier sei es noch einmal erklärt: kein Jude vermag in einem Mord, vermag in Gewalt ein Argument zu erblicken und einen Mord zu entschuldigen. Man kann Schwarzbarts Tat verstehen, man kann sie verzeihen — aber nie billigen.
WMS