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JÜDISCHE RUNDSCHAU
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BERLIN
ד׳ סיון תרצ״ח
FREITAG, 3. JUNI 1938
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Nr. 5 vom 1. April 1936. Die twölf?espaUen* mm ־ Zeile 20 Rpf, für Familien• Nachrichten IS Rpf. Keine Gewähr für Aufnahme von Anzeigen in bestimmten Ausgaben oder an bestimmten Plätzen. Einzelanzeigen nur gegen Vorauszahlung auf Postscheck * Konto Berlin 71618 oder bar Montag bis Freitag 9 — 18 Uhr, Annahmeschluß für die Dienste? ־ Ausgabe Montag 10 Uhr, für die Freitag * Ausgabe: Mittwoch 15 Uhr. Familien - Anzeigen am Tag vor Erscheinen 16 Uhr
Der Zionismus erstrebt für das indische Volk die Schaffung einer öffentlich - rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina■ (Baseler Programm)
An einem neuen Anfang?
Der Blick in die Geschichte und die jüdische Gegenwart
Zu Schawuoth 5698
Die jüdischen Feste lenken unseren Blick zumeist auf die Frühgeschichte des jüdischen Volkes zu- rück. Es ist die Zeit des nationalen Werdens unseres Volkes, deren wir an den Tagen der Besinnung ge- denken. Erforschen wir die Grundmotive, die sich in jener Zeit, als sich aus den Stämmen der Wüste unser Volk bildete, am klarsten zeigten, so finden wir zwei Hauptkräfte: Es ist auf der einen Seite das ir- dis che, materielle Element und auf der anderen Seite ein transzendentes, immaterielles, religiöses Eie- ment, das sich in jenen frühen Tagen unserer Ge- schichte offenbart. Wenn wir es ganz einfach aus- drücken wollen, so können wir sagen, daß bei der Erit- Stellung unseres Volkes Erde und Himmel sich miteinander verbunden und zusammengewirkt haben. Diesen beiden Elementen entsprechen die beiden großen Stationen jenes Prozesses: der Auszug aus dem Lande Aegypten, der die materielle Volkskraft vor dem Unter- gang bewahrte und ihr ein neues Lebensziel im ver- heißenen Lande gab, und die Offenbarung und Gesetz- gebung am Berge Sinai, die dein werdenden Volke die Normen seines Verhaltens und die Ideale für sein Stre- ben vor Augen führte.
Allerdings liegen die Dinge nicht ganz so einfach, wie sie bei einer Rückschau in die Vergangenheit auf den ersten Blick erscheinen. Die beiden Elemente ״Erde“ und ״Himmel“ treten in der jüdischen Geschichte nicht in ihrer Reinheit auf, d. h. in einer völligen Gegensatz.־ lichkeit zueinander, sondern jedes Element enthält sozu- sagen auch ein wenig von dem anderen. Die ״Erde“, das materielle Leben, besitzt etwas von dem Geist des Himmels; sie ist in gewisser Weise durchtränkt mit dem Element des Transzendenten, und von allem Anfang an scheint in der Seele des jüdischen Volkes die Sehn- sucht wach gewesen zu sein, das Irdische zu erhöhen und nicht ganz und gar den Triebkräften des niederen Daseins auszuliefern. Gerade hierin zeigte sich ein we- sentlicher Unterschied gegenüber den anderen Kultur- Völkern der Antike, deren Leben sinnenfreudig war und sich mit weit größerer Bereitschaft auch dem Trieb- haften und Dumpfen dieser Erde öffnete. Und ebenso ist der ״Himmel“ in jener Frühzeit jüdischer Geschichte nicht ganz und gar jenseitig, sondern er tritt zum Ein- zelnen und zum Volke in der Begegnung auf dem Berge Sinai in eine Beziehung, deren Ort, mag er noch so hoch erhoben sein, die Erde war.
Es ist wichtig, sich dies vor Augen zu führen, wenn man die inneren Kräfte unseres Daseins er- kennen will.
Das Leben des Menschen ist nach jüdischer Vorstellung irdisch und den Gesetzen und Notwendigkeiten des irdischen Lebens unter- worfen, aber es ist menschliches Leben nur dann, wenn es in jene andere Sphäre hin- einragt, wenn es den Segen aus jener Region empfängt, die nicht mit den Maßstäben irdischer Notwendigkeit gemessen werden kann.
Die Geschichte unseres Volkes ist zugleich die Auseinandersetzung mit jenen Grundkräften. Sie ist die Geschichte eines ewig wiederholten Abfalles von der Aufgabe, die dem Volke und dem Einzelnen ge- stellt ist, nämlich jene seelische Erhebung und Reini- gung zu schaffen, die sich über die Zone des rein mate- riellen Lebens erhebt. Und wie die Geschichte der Juden eine Chronik des Abfalles ist, so ist sie zugleich die Erzählung von dem Zorn der Männer, die aus ihrer Mitte aufstanden und das Volk dem rechten Wege zuführen wollten. Das beginnt mit der Erzählung vom Goldenen Kalb und der Gestalt des die Bundestafcln zerschlagenden Moses und setzt sich durch alle Jahr- hurfderte und Jahrtausende unserer Geschichte fort.
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Heute, in einer Zeit der tiefen äußeren Krise unseres Volkslebens, steht vor uns jene Frage, der niemand ausweichen kann, ob die Schicksalsschläge, die wir
erlebten, uns nur äußerlich zu Reaktionen ver- anlaßt haben, oder ob sie Anlaß eines inneren Wandels waren. Wir fragen, ob wir auch jetzt, wenn auch in anderer Form, dem materiellen Opportunismus huldigen, selbst dort, wo wir an dem Neuaufbau unseres Volkslebens rnitwirken, oder ob wir einer inneren Stimme folgen und uns über diese Sphäre zu erheben beginnen. W i r w i s s e n es nicht genau, was diese Zeit wirk- lieh für uns bedeutet, ob auch wir im Abfall verharren oder nicht; erst kommende Geschlechter werden den Richterspruch über die heute Lebenden fällen und sagen, was wir unter historischen Gesichtspunkten wert waren. An anderer Stelle der heutigen Nummer wird diese Frage ausführlicher erörtert, und zwar in ihrer Zu- spitzung auf das Problem, ob eine religiöse Er- neuerung heute erfolgt und möglich ist, liier bei uns und in Palästina. Dabei kommt zürn Ausdruck, wie mißtrauisch wir uns selbst gegenüber sind, eine Hai- tung, die gewiß verständlich ist, weil Ehrlichkeit auf diesem Gebiete so nottut wie kaum auf einem anderen. Dennoch, so scheint es uns, ist
diese Zeit nicht arm an S y ווו b o I e n, die wenig-
stens andeuten, daß etwas in unserem Leben vor sich geht, was über den Tag hinausweist
und vielleicht ein wenig ahnen läßt, daß hier mehr ge- schiebt als etwas Zufälliges und Aeußerliches. Tau- sende, zehntausende Juden werden über die Erde ge- weht wie von einem Sturmwind der Geschichte. Der Einzelne müht sich gewiß darum, seinen eigenen Weg abzustecken, dennoch scheint es, daß Unzählige wie durch ein Spiel des Zufalles dahin oder dorthin ver- schlagen werden, nach West oder Ost, in diese oder jene Hemisphäre. So entstanden neue jüdische Ge- meinsc haften in geographischen und kulturellen Be- zirkelt, die diesen Juden durch ihre Eigenart in Zukunft ein ganz neues Gesicht verleihen müssen, wenn einmal mehrere Generationen vergangen sind. Welche Syn- thesen sind dort möglich, welche Gedanken werden von solchen neuen Judenhciten ausgehen? Und wir erleben bei alledem zugleich ein Maß an Hilfsbereit- scliaft des Menschen für den Menschen, das bei der Härte unserer Zeit erstaunlich ist. Wir sehen, daß fremde Menschen nicht nur im Rahmen von dazu geschaffenen Organisationen etwas tun, um zu helfen, sondern daß immer wieder der einzelne Jude dem anderen helfend gegenübertritt. Auch das ist eine Auflocke- rung der Herzen, die ihre innere Bedeutung hat, wobei wir gewiß nicht sagen können, ob sie ein Same für die Zukunft sein wird oder nicht; aber vielleicht bleibt ein wenig davon haften.
Blicken wir nach Palästina, so drängen sich uns und der Welt gewaltige historische Perspektiven auf. Die Zeit der Unruhen ist gewiß ein großes Unglück, das über das Land und das jüdische Volk gekommen ist; gleichzeitig aber hat diese Zeit Lebensformen im Lande geschaffen, die an die fernen Zeiten unserer Vergangenheit gemahnen. Im wörtlichen Sinne mit Pflug und Schwert leben die jüdischen Siedler in Palästina Tag für Tag wie einst ihre Vorfahren, als sie zum zweiten Male das Land in Besitz nahmen. Gerade jetzt wird darüber berichtet, daß jüdische Arbeiter, die an dein Grenzzaun im Norden des Landes arbeiten, ein befestig- tes Lager bezogen haben. In England hat man diesen Zaun mit dem Hadrians-Wall verglichen, der von den Römern in England gegen die Briten errichtet wurde. Wie nahe liegt der Vergleich jenes Lagers mit den Lagern altrömischer Legionen, aus denen sich, wie es auch bei dem Arbeiterlager an der Nordgrenze der Fall sein soll, dauernde Siedlungspunkte entwickelten. Wir sind gewiß keine Freunde der Heroisierung unseres Lebens — dennoch geht etwas Heroisches durch die jüdische Geschichte unserer Tage, und wir sehen neue Formen des Daseins entstehen, nicht weil wir sie her- beiwünschten oder eine vorgefaßte Meinung verwirk- liehen wollten, sondern weil das Leben sie fordert, und weil wir seinen Ansprüchen genügen müssen.
Wer könnte an all dein vorübergehen, ohne nach dem Sinndes Geschehens zu fragen? Nicht jeder
unter uns spricht darüber, aber jeder, dessen Gefühl lind Denken wach ist, spürt die Frage in sich.
Wie sollen wir es den Kindern sagen und er- klären, was heute geschieht?
Wenn nicht wir selbst darauf kommen, die Kinder fragen uns, was das alles bedeutet, was sie hören und lesen. Sie sehen vor sich jüdische Not, sie erleben oft genug die Trennung und Entfernung von den liebsten Men« sehen — und ihnen müssen wir erklären, was es be- deutet. Dies ist keine leichte Aufgabe, denn es ist nicht möglich, Kindern, die voller Phantasie und Lebens- begierde sind, die Dinge rein ״realistisch“ zu sagen und so an der Oberfläche des Geschehens zu bleiben. Versuchen wir dies, so werden sie uns erneut fragen, warum alles so ist und .geschieht, und dann müssen wir uns besinnen, auf uns selbst und auf die Kräfte unseres Innern — wenn wir es nicht schon vorher taten.
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Dies ist die Zeit der Erinnerung an die Gesetz- gebung, die dem jüdischen Volke eine Lebensform auferlegte. Das Gesetz in seiner Vielfalt wird heute von der Mehrheit des jüdischen Volkes nicht getragen, und wir müssen bekennen, daß die meisten von uns dazu weder bereit noch fähig sind; darüber hinwegzusehen, ist eine Selbsttäuschung, die niemand will, besonders nicht diejenigen, die die Verbindlichkeit des Gesetzes für sich selbst anerkennen. Heute bestehen auch nicht jene beiden Grundvoraussetzungen, weder hier noch in Palästina, um dem jüdischen Gesetz Geltung zu ver- schaffen, die kürzlich bei einer Auseinandersetzung mit Macht zu seiner Sanktion und Glaubhaftigkeit seiner Vertreter treffend gekennzeichnet wurden. Dennoch stoßen alle Erörterungen nach dem Sinn dieser Zeit und den Aufgaben der Zukunft, soweit wir sie über- haupt erfassen und bewußt gestalten können, auf das Problem des Gesetzes. Wie soll ein jüdischer Staat sich dazu verhalten, woher soll er die Normen seiner Gesetze nehmen? Was kann die jüdische Tradition ihm hierbei nützen, oder muß er stell ganz und gar an euro- päische Vorbilder halten?
Vielleicht stehen wir wiederum am Anfang
einer Zeit neuer Gesetzgebung für das jüdische Volk,
die in irgendeiner heute noch nicht zu übersehenden Weise eine Norm unseres Lebens festlegt. All dies sind Fragen von größter Innerlichkeit und zugleich Probleme des Tages, unseres Tages, von einer Generation zu lösen, die es nicht in Muße tun kann, sondern aufgewühlt wird von den Wellen der Geschichte.
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Schawuoth ist in Palästina zugleich ein Volksfest, das Fest der Erstlingsfrüchte Chag Habikkurim. Auch in diesem Jahr muß es noch im Zeichen des Terrors und der Abwehr begangen werden, immer noch gibt es Mord und Verluste im Lande, immer noch ist die Frucht der Arbeit des Landmannes nicht sicher vor der Ver- nichtung auf dem Felde. Dennoch geht der Aufbau weiter, und der Druck des jüdischen Volkes in vielen
&du UetetMUk
Die Jewish Agencp hat ihren Jahresbericht an die Per - manente Mandatskomm i s s i 0 n des Völker - hundes mit einem Begleitbrief von Dr. Weizmann an den High Commissioner von Palästina überreicht.
Der neue Vorschlag Emir A hdullahs zur Lösung des Palästinaproblems wurde von diesem als authentisch bestätigt.
An der Nordgrenze Palästinas wurde ein befestig • tes Arbeitslager von den Arbeitern bezogen, die bei der Herstellung des Grenzzauns tätig sind.
Dia Spannungen im S a nd s cha k 1! o n A le x an- drette haben sich im Zusammenhang mit den Wahlen sehr verstärkt.
Claude G. Monlcfiore (London) vollendet am 6 . Juni das 80. Lebensjahr.
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