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. Schule und
Nr. 2. Beilage zu Nr. 12 -es Frankfurter Israelitischen Familienblattes
Almosen.
'Eine zeitgemäße Betrachtung von Walther Treufest.
Daß Theorie und Praxis im öffentlichen wie privaten Leven zwei sehr verschiedene, ja nicht selten diametral einander gegenüberstehende ■ Verhältnisse darstellen, hat wohl fast jeder schon einmal am eignen Fleische erfahren. Es erscheint darum ganz natürlich, daß auch der jüdische Lehrer, dem gewöhnlich won allen Miseren des Lebens sein gehäuftes Maß zugeteilt ist, den Unterschied zwischen Theorie und Praxis fühle. Der jüdische Lehrer! Welch großes Wort! Welche Wichtigkeit und Bedeutung wird seiner Aufgabe und Wirksamkeit zugemessen, welcher Einfluß auf die Ausgestaltung der jüdischen Zukunft "ihm Leigelegt, welche Erfolge werden von seiner Tätigkeit erwartet! Wo es sich um positive Tätigkeit auf geistigen Gebieten, um Popularisierung und Verbreitung neuer Ideen oder Zeitströmungen, um praktische Durchführung div. Projekte handelt usw. — da kennt, da sucht man den jüdischen Lehrer, namentlich auf dem Laude — und er ist für gemeinnützige Zwecke stets zu haben, stets gerne bereit, nach Kräften zu wirken. Nun — diese Hochstellung und Wertschätzung des jüdischen Lehrers — sie ist die Theorie! Und die Praxis? Die zeigt sich vielfach erst, wenn auch der jüdische Lehrer seinerseits einmal Ansprüche oder auch nur Wünsche erhebt, sei es bez. .der sozialen Stellung, sei es bez. der materiellen Entlohnung oder sonst bez. irgend eines der zahlreichen Mängel, die er zu beklagen hat. Es sei gerne zugestanden, daß es rühmliche Ausnahmen -gibt — aber eben leider nur Ausnahmen — während man in der Mehrzahl der Fälle nach dieser, für den Lehrer sehr eminent „praktischen" - Richtung , von jener „theoretischen" Bewertung wenig oder nichts merkt.
Es soll nun hier keineswegs ein Bild des ganzen Lehrerstandes in Bezug auf seine Klagen und Wünsche entrollt werden; das würde zu weit führen und bietet kaum etwas Neues. Nur ein, immerhin nicht unwesentlicher Punkt möge in den Kreis der Betrachtung gezogen werden, der gleichermaßen die soziale Stellung wie die materielle Entlohnung berührt, das Verhältnis — in vielen Fällen besser gesagt „Mißverhältnis" — zwischen „Einkommen" (Gehalt) und sog. „Nebeneinkommen".
Wenn wir die Vakanzausschreibungen jüdischer Schulstellen durchlesen, finden wir oft Gehaltssätze normiert, bei denen sich unwillkürlich die Frage aufdrängt, ob es wirklich Gemeinden gibt, die solche Offerten zu machen wagen, aber auch, ob es wirklich Lehrer gibt, die nicht lieber jede andere Beschäftigung ergreifen, als um solche Hungerlöhne arbeiten. Es ist nicht so schlimm, lautet gewöhnlich die Antwort, es gibt viele Nebenverdienste. Das trifft nun allerdings in der Regel zu, aber — ist ein solcher Zustand auch am Platze, ist er berechtigt?
Ich kenne eine Schulstelle — nomina odiosa sunt — die ein fixes Gehalt von 408 Mark trägt, in Wirklichkeit aber ein Totaleinkommen von 14—1500 Mark gewährt. Das Nebeneinkommen, oder wie der gebräuchliche Ausdruck lautet, die Nebenverdienste beziffern sich hier über 1000 Mark, also mehr denn das Doppelte des eigentlichen Gehaltes. Woraus fetzt sich nun dieses zusammen? Aus den Zahlungen für die sogenannte Mischeberach, aus Zahlungen für Schiurim an Jahrzeittagen, aus Geschenken an Purim und Rosch haschonoh u. dgl. m. Die Gemeinde, die ich im Auge habe, besteht aus 14 Familien, von denen einige als unbemittelt außer betracht bleiben müssen, sodaß sich für die zahlungskräftigen ein Beitrag von je fast 100 Mark ergibt. Sollte es da nicht angezeigt erscheinen, das sixe Gehalt entsprechend zu. erhöhen und die Nebenverdienste wenigstens teilweise in Wegfall kommen zu lassen?
Die Form, in der jene Nebenemolumente gereicht werden, ist vielfach eine höchst unpassende. Da bringen die Kinder einen Geldbetrag, säuberlich in Papier gewickelt und überreichen ihn dem Lehrer, natürlich aber genau unterrichtet über Inhalt und Zweck der Sendung. Dort greift ein Herr, der den
Lehrer zufällig aus offener Straße trifft, in die Tasche und überreicht dem Lehrer nach langem Suchen sein Deputat u. s. f. Bedenkt man nicht, welch bitteren Beigeschmack diese Art und Weise für den Lehrer haben muß? Sieht es nicht aus und erscheint es nicht vielen als eine Art Almosen? Muß dadurch nicht Stellung und Wirksamkeit des Lehrers Schaden leiden? lind selbst, wenn diese vereinzelten Beiträge nach der Gehaltsfassion pflichtgemäß lvüren, der Effekt bleibt derselbe. Gar mancher denkt bei sich, in der Gewährung oder Entziehung solcher Nebenverdienste ein Disziplinarmittel gegen den Lehrer zu haben.
Es ist wohl wahr, ultra posse nemo obligatur, aber in den Nebenverdiensten zeigt sich ja doch, daß man wohl könnte, wenn man wollte.
"Als Ehrenpflicht müßten es alle Gemeinden betrachten, dem Lehrer ein möglichst anständiges Gehalt auszusetzen und nicht ihn auf Nebenverdienste zu ver- weiscn. Dem treuen Arbeiter gebührt sein Lohn, dem Bettler gewährt man ein Almosen. Treue, hingehende Lehrerarbeit ist aber wohl ihrer würdigen Entlohnung wert. Darum fort mit dieser deprimierenden Form der Gehaltsaufbesserung! Fort mit dem Almosen!
Aus der Lehrerwelt.
Frankfurt a. M. .Achawa", Verein zur Unterstützung hilfsbedürftiger israelitischer Lehrer, Lehrer-Witwen und -W a i s e n i n D e u t s ch l a n d. Die „Achawa" versendet soeben ihren 40. Rechenschaftsbericht. 40 Jahre sind es her, seitdem dieser so segensreich wirkende Verein, der Jahr ein Jahr aus so manchen Lehrer- Veteranen vor der Not bewahrt und so manchem sterbenden Lehrer wegen des Schicksals seiner Familie eine gewisse Beruhigung gewährt hat, gegründet worden ist. Es lohnt sich daher einen kurzen geschichtlichen Rückblick auf den Werdegang des Vereines zu werfen.
Die Entstehung der „Achawa" ist zurückzuftihren auf eine im Jahre 1863 au den sel. Herrn Klingen st ein, damals Lehrer in Odernheim, ergangene Aufforderung, in dem von ihm redigierten Blatte „Der israelitische Lehrer" eine Bitte für einen armen, unglücklichen Lehrer zu veröffentlichen. Es war dies für einen Greis von 72 Jahren, der seit Wochen krank war, dabei ganz mittellos, und dessen Gemeinde nutzer Stande war, die Kosten für seine Pflege aufzubringen. Der Aufruf erfolgte und schon nach ein paar Tagen gingen einige Beträge ein, die Klingenstein dem armen Lehrer sofort zugehen ließ. Am darausfolgenden Tage erhielt Klingenstein die Nachricht von dem eingetretenen Tode des Unglücklichen. Das war das Bild der letzten Tage eines Märtyrers aus dem damaligen Lehrerstaude, der zeitlebens mit" der Not zu kämpfen hatte.
Um dieselbe Zeit wirkte aber noch ein anderes Beispiel auf Klingenstein ein, um ihm das bedrohliche Schicksal seiner Berufsgenossen so recht vor die Augen zu führen: er besuchte damals einen Freund, einen wackeren Lehrer, traf ihn im Kreise seiner Familie, die aus seiner Frau und vier Kindern bestand, wovon das älteste sechs Jahre eckt war; — den Vater quälte ein arger Husten, und Klingenstein erschrak bei dem Gedanken, was wohl aus der Gattin und den vier Kindern werden sollte, wenn ihnen der Vater nicht erhalten werde, — zumal in einer Gemeinde, die einen treuen Lehrer und die Bedeutung des Lehramts garnicht zu schätzen wußte. — „Was würde diese den Hinterbliebenen wohl sein, die sonst keinen Anspruch und keinen Annehmer hatten?" fragte sich Klingenstein, und da trat ein Gedanke, der ihn schon lange bewegte, aufs lebendigste vor seine Seele: „es müßte eine Bereinigung aller israelitischen Lehrer Deutschlands und aller Freunde der Schule zur Unterstützung der dienstunfähig gewordenen Lehrer und deren Witwen und Waisen gegründet werden."
Klingenstein wollte dieses Ziel zur Aufgabe seines Lebens machen, doch das Was und das Wie waren nicht leicht. Ein Zusammentreten aller, eine Vereinigung der Gcsamtkräfte schien ihm unbedingt notwendig; aber es mußten zwei Umstände dabei ins Auge gefaßt werden: „die beschränkten Mittel der Lehrer und die unzuverlässige Hoffnung, bei einem solchen Unternehmen auf Stiftungen und Spenden der Privaten und Gemeinden zu rechnen."
Er nahm sich deshalb den Pestalozzi-Verein zum Borbilde, der, außer daß er verschiedenen edlen Zwecken dient, sich auch die Erziehung armer Lehrerwaisen und die Unterstützung verwaister Lehrerfamilien zur Aufgabe macht; dieser Verein erringt seine Mittel weniger durch einzelne Geldbeiträge
als insbesondere durch literarische Unternehmungen und erzielt aus diesen zu Gunsten der Lehrer sehr günstige Resultate.
„So wollen wir's auch machen", sagte Klingcn- stein, „auch unter den deutschen Juden müßre ei» solches Unternehmen Anklang finden: — nicht ans Beiträge der Lehrer und auch nicht aus sonst gesammelte Gaben, sondern vorzüglich auf literarische Unternehmungen soll auch unser Verein gegriindct werden können."
Diesen Plan verfolgend, ging ec von dem Ge- danken aus, daß ein Jahrbuch herausgegeben werden solle und verband sich hierfür zuerst mit 2r. Leop. Stein in Frankfurt, Tr. Rothschild in Mzey und Herrn Lehrer Marx in "Alsheim zu einem provisorischen Komitee: später traten noch hinzu die Herren !Lonis Lehmann in Homburg, Louis Nenbergcr in Alzey, Simon Levi in Landau und H. Kahn in Flörsheim.
Im August 1864 fand zur Gründung des Vereins die erste Generalversammlung in Mainz statt, auf der der Druck eines Jahrbuches mit dem Namen „Achawa", das als „Bruderbuch" wirken und die Lehrer nebst deren Gemeinden zu brüderlichem Zusammenwirken ermutigen solle, beschlossen wurde.
Nach einigen Jahren aber schon beginnt die Verwaltung einzusehen, daß durch die Herausgabe von Jahrbüchern sie ihr Ziel nicht erreichen könne, und so tritt der Verein 1867 nach schwerer "Arbeit und einer dreijährigen Erfahrung in eine neue Aera; das Jahrbuch „Achawa", dessen Herstellung mit all den aus dessen Verlag und Verkauf entstandenen Kosten die ganze Einnahme des Vereins absorbiert hatte, hört auf zu erscheinen, der "Name des 'Buches geht jetzt durch Beschluß einer General-Versammlung auf den Verein über, und zur Rettung vor vollständigem Schiffbruch in eine» sicheren Hasen wurde die Bestimmung getroffen, daß von nun an der ständige Sitz des Vereins und dessen Verwaltung in Frankfurt bleibt und niemals nach einem anderen Orte verlegt werden darf.
In Frankfurt erkannte man sofort, daß nicht die aktiven Mitglieder, wonach man bisher mit Aufwendung vieler Kosten so emsig strebte, und die den Verein für den Beitrag von fl. 3,30 mit den ihnen eingeräumten Rechten so schwer belasteten, sondern daß unter den jetzigen Verhältnissen nur die Ehrenmitglieder und deren Spenden, also die Wohltätigkeit, die stützende Säule zur "Aufrichtung der Achawa bilden könnten.
Auf dieser neuen Basis trat nunmehr der Verein den Weg einer gesunden, stetigen Entwicklung an. Heute zählt er 387 aktive und ca. 1200 Passive Mitglieder. Im abgelaufeneu Jahre zahlte er 113 Pensionen mit 136»/. Teilen Mk. 160 — Mk. 21880 und Mk. 1590 außergewöhnliche Unterstützungen ans. Das Vereinsvermögcn beträgt gegenwärtig 288813 Mark. — Möge die „Achawa" auch weiter gedeihen und blühen; möge sie sich des Interesses des Publikums in immer ausgedehnterem Maße erfreuen!
Frankfurt a. M. Wie verlautet, hat die Stadt das jetzige Gelände der israelitischen Realschule P h i - lantropin angekauft und gibt dafür einen Komplex in dem demnächstigen Durchbruch der Hebbelstraße.
Alzey. Die hiesige Rabbinerstelle wird am 1. April von Herr» Rabbiner Dr. Levit -Lochstädten besetzt.
Stratzburg i. 8ls. In der Frage der BerlWing des Sitzes des Rabbinates von Pfalzburg nach Saarburg, welche das israelitisch« Konsistorium von Lothringen in einem Gesuche an das Kaiser!. Ministerium verlangt hatte, hat das Ministerium nunmehr endgültig entschieden, daß bis aus weiteres der Sitz des Rabbinates in Pf alz bürg verbleibt. Es darf also darauf gerechnet werden, daß in Kürze das seit dem 1. Juli vakante Rab- binat wieder besetzt wird.
Bochum, 17. März. Bei der heutigen Beratung der Vorlage betreffend die Kommunalisier- ung der evangelischen und israelitischen Volksschulen in Bochum kam es in der Stadtverordnetenversammlung zu einer interessanten Kultusdebatte. Justizrat Dickamp gab namens seiner Freunde vom Zentrum eine Erklärung ab, welche sich gegen die Kommunalisierung ansspricht, weit dadurch die Konfessionalität der Schulen gefährdet werde. Stadtverordneter Löchtermann warf dem Magistratsdezernenten vor, daß die geheime Triebfeder für die Vorlage in der Absicht liege, einer Simultanisierung der Volksschule den Boden zu ebnen. Bürgermeister Dr. Großmann wies das zurück und betonte, daß nur verwaltungstechnische Gründe die Vorlage veranlaßt hätten. Zwar bekenne er sich offen als einen Freund der Simultanschule : er trage aber der herrschenden Strömung Rechnung, welche die Einführung der Simultanschule in Bochum nicht tunlich erscheinen lasse. In namentlicher Abstimmung wurde daraufhin die Kommunalisierung der evangelischen und israelitischen Volksschulen im Stadtkreise Bochum beschlossen.