1906
„Schule und Huus"
Nr. 2. Beilage zn Nr. 8 des Frankfurter Israelitischen Familienblattes
Geflügelte Worte.
(Momentaufnahmen mis der religiösen Praxis.)
Markante Stellen dichterischer Erzeugnisse, packende Kraftstellen ans den Reden unserer Politiker, volkstümliche Sprichwörter und Redensarten, die zum geistigen Gemeingut geworden sind, eilen als „geflügelte Worte" von Mund zu Mund und werden von manchem bei jeder passenden — und unpassenden Gelegenheit angewenbet. Tie Sucht nach „Zitaten" ist bei vielen Menschen unbesiegbar, glaubt man doch, sich dadurch einen Schein der Bildung und Gelehrsamkeit geben zu können. Mag man über diese harmlose Großmannssucht heimlich lächeln und sich innerlich belustigen, da ja eigentlich niemand Schaden davon hat! Doch gibt es ein Gebiet, wo die „geflügelten Worte" vielfach Verwirrung und Unheil stiften, ein Gebiet, wo nicht die klingende Phrase, sondern nur die reinste Klarheit und das deutlichste Bewußtsein herrschen dürfen, das Gebiet der religiösen Praxis. Leider wird aber hier durch solch' „geflügelte Worte" viel gesündigt. Einige Beispiele, die natürlich noch um viele andere vermehrt werden könnten, mögen dies dartun.
In X. wird irgend ein wohltätiger Verein oder dgl. ins Leben gerufen. Natürlich wird cifrigst die Werbetrommel gerührt, denn es ist „eine heilige Pflicht", das Unternehmen zn unterstützen. —- In 9). wird irgend ein Jubiläum gefeiert — es ist „eine heilige Pflicht" mitzufeiern. — In M. wird ein Wohltätigkeitsbazar, ein Arnienball usw. inszeniert: natürlich ist es „eine heilige Pflicht", nicht dabei zu fehlen, u. s. f. ad infinitum. Vor lauter „heiligen Pflichten" weiß man gar nicht, daß es eine „heiligste Pflicht" gibt, hat man gar nicht Zeit und Möglichkeit, diese „heilige Pflicht" zu erfüllen, nämlich zu leben nach den Geboten unseres Gottes, zn wandeln die Wege unserer Thora.
Herr N. ist noch „fromm", er raucht nicht einmal am Sabbat (sein Geschäft hat er zwar am Sabbat offen); Herr O. ist noch „recht fromm", — er geht jeden Sabbat zur Synagoge (zu Hause legt er allerdings keinen Tag Tesillin); Frau P. ist noch „sehr fromm", sie führt ganz koscheren Haushalt (sie weiß jedenfalls nicht, daß Maggi und Liebig usw. trefe sind); Familie R. ist noch „außerordentlich fromin", da wird jeden Pesach Seder gegeben (wenn auch der Wein dabei chomcz ist); Familie S. ist „ganz merkwürdig fromm", hat sogar ein Porauches in die Synagoge gestiftet (von Zizis und Masusoh weiß man aUerdings nichts im eignen Hanfe). — „Fromm, fromm sind sie alle!" wenn man dem geflügelten Worte glauben will, gibt es überhaupt nur „fromme" Leute! Sollte diese Selbstzufriedenheit, dieser Mißbrauch des Wortes nicht tatsächlich das Gegenteil von fromm bewirken?
Wer, werden N. und O. und P. und R. und S. in gerechter Entrüstung rufen, wie kann man bezweifeln, daß wir „fromm" seien, was tun wir „Unrechtes", wir morden nicht und stehlen nicht, wir „tun was recht ist", wir sind fromm! Gemach! Wer sagt Euch denn, was recht oder unrecht ist? Ei, die menschliche Moral! Und worauf gründet sich diese menschliche Moral? Toch nur ans das Gottcswort, die Bibel! Und ist nicht in dieser Bibel das 4. Gebot ebenso enthalten wie das 6. und 8., nicht ebenso das Tefillinlegen geboten Wie die Ehrlichkeit, nicht ebenso das Schatnes verboten wie die falschen Maße und Gewichte? Und Ihr wollet behaupten, Ihr „tut was recht" ist?
Herr A. sucht für seinen Sohn eine Lehrstelle, „womöglich" am Sabbat geschlossen; er wendet -sich auch an 2 oder 3 solcher Geschäfte oder Lehrherren, es kommt aber zn keiner Einigung. Schließlich kommt der Junge eben in eine Stelle, wo er den Sabbat entweiht. Toch Herr A. weiß sein Gewissen zu bc- rnhigen: „er hat seine Schuldigkeit getan, mehr kann er nicht". — Herr B. würde um alles in der Welt nicht trefe essen wollen; wo er einkauft, fragt er den Verkäufer, ob auch alles koscher sei, wo er speist, muß über der Restaurationsfirma bas Koscher-Täfel» chen glänzen, was er bestellt, muß als koscher annonciert fein) ob allerdings der Verkäufer, das Koscher-
Schildchen, die Koscher-Annonce auch wirklich vertrauenswürdig sind, ob überhaupt außer dein kleinen Wörtchen koscher noch irgend eine Vorbedingung für Kaschrus gegeben und erfüllt ist, das beunruhigt ihn nicht, danach fragt er nicht, dafür hat er „keine Verantwortung", „das hat der andere auf-sich", — „er hat seine Schuldigkeit getan, mehr kann er nicht!" Und nun frage ich: Hätte er wirklich nicht mehr gekonnt? Hat er wirklich seine Schuldigkeit getan?
Ein schöner Soimiicrabcnd! Dort sehen wir eine Anzahl Glanbensbrüder vor der Synagoge, die mit Ungeduld auf Beginn des Abcndgottesdienstes — es ist Sabbatausgang — drängen. Zwar ist cs noch nicht Nacht, die 3 Sterne wollen absolut keine Konzessionen machen und etlvas srühcr erscheinen, doch da drohen einige Herren, Weggehen zu wollen, wenn nicht sofort angefangen werde, dann wäre vielleicht aber kein Minjan mehr, also läßt man den Lcdowid bornch erschallen, denn cs ist doch wenigstens ein „Gottesdienst (?), ist doch wenigstens „etwas, besser als gar nichts". — Fast bei allen Gebctszeiten bürgert sich so allmählich eine Verschiebung auf früher oder später ein — cs ist doch gebetet, ist besser als gar nichts, lind so kann man das geflügelte Wort leider nur zu oft hören; bald heißt es, das Sefer ist zwar posul, doch aber besser als gar keines, ebenso bei Tesillin, Mesusans und anderen derartigen Mizwans, bald . . . ., doch wozu sich in Details verlieren, deren Zahl Legion ist und die allgemein bekannt sind! Sollte nicht in vielen dieser Fälle das „Nichts" besser sein als solch ein „Etlvas"? In der religiösen Praxis, in rituellen Fragen sind Konzessionen fast regelmäßig vom llcbel.
Und so gibt es der „geflügelten Worte", die religiöse Unterlassungen oder Verfehlungen beschönigen, entschuldigen, rechtfertigen sollen, eine schwere Menge. Ta meint einer, das und jenes sei „nicht mehr zeitgemäß", — vertrüge sich nicht mit dem „Forr- schritt", dort behauptet ein anderer, man dürfe „sich nicht Herausstellen" — kein „Aufsehen" erregen — keine „Ausnahme" bilden — dieser entschuldigt sich mit den „Verhältnissen" — und jener „würde gerne, wenn . . . ." n. s. f. in bunter Reihe.
Wo es überhaupt einer Entschuldigung, Beschönigung, Rechtfertigung bedarf, da muß irgend etwas faul, irgend etwas nicht in Ordnung sein! Darum sort mit diesen geflügelten Worten, fort mit den ihnen zu Grunde liegenden Mängeln, hinaus mit ihnen ans dem Lexikon der religösen Praxis. Keine phrasenhaften Gemeinplätze mehr, sondern bewußtes Können und energisches Wollen — keine laxen Entschuldigungen, sondern einwandsfreie Betätig u n g r e l i g i ö s e r G r u n d s ä tz e u n d Ge - bote! Leopold Anfänger.
Aus der Lehrerwelt.
Berlin, 14. Februar. Herrn Religionsschuldirektor Jacob Marcufe ist der Adler der Inhaber des Königl. Hausordens von Hohenzöllern verliehen worden.
Budapest. Zum Präsidenten des im neo- logen Sinne geleiteten Landcs-Rabbiner-Se- m i n a r s wurde an Stelle des verstorbenen Herrn Martin Schweiger HerrJo f. H at v a n Y-D e u t s ch einstimmig gewählt)
Bayreuth. Herr Rabbiner Dr. Kusznitzki begeht am 1. März sein 25jährigcs Jubiläum als Rabbiner unserer Gemeinde. Der. Jubilar ist ein Zögling des Breslauer Rabbiner-Seminars und fungierte von 1874—81 als zweiter Rabbiner in Brannschweig.
Budapest. In Ausführung eines im Vorjahr vom Transdanubischen Rabbinerverein gefaßten Beschlusses, einen Landes-Rabbinerverein zu gründen, wurden seinerzeit die bezüglichen Statuten dem Ministerium des Innern unterbreitet. Da die Statuten vorige Woche mit der Weisung zürückgelangt waren, an ihnen Modifikationen vorzunehmen, fand kürzlich hier in dieser Angelegenheit eine Versammlung statt, an welcher teilnahmen die Rabbiner und Religionslehrer: Tr. Julius Fischer, Dr) Simon Hebest, Tr. Arnold Kiss, Dr. Samuel Krauß, Dr. Isidor Engelmann, Dr. Hermann Frisch, Dr. Moriz
Blau, Tr. Ludwig Scheibe (Budapest), Dr. Samuel Klein (Becskerek), Dr. Kecskemet (Nagyvarad), Tr. Adler (Hatvan), Dr. Koyn (Mvnor), Dr. Szidon (Versecz), Dr. Mandl (Szigetvar), Dr. Steinherz (Szö- kessehöroar), Tr. Singer (TemeSvar) und Dr. Neumann (Nagykanizsa). — Rach eingehender Debatte wurden die Modistziernngen vorgenommcn.
Budapest. Naovurcn-Promolion. In der Synagoge der Landes-Rabbinenschule wurden heute Vormittag die Herren Dr. I. B o r s o d i, Dr S. Großmann, Dr. M. Richtmann, Dr. Äl. Schönfeld und Dr. S. Weiß auf Grund der vom 12. bis 18. d. At. stattgehabten mündlichen Rabbincn- prüfungen zn Rabbinen promoviert.
Lemberg. Die hiesige Milche Gemeinde, die unter 40 0üu Seelen mindestens 30000 Orthodoxe zählt, sucht Linen Rachsolger für ihren großen Rabbiner, Rabbi Gedaljah Schmelkes s. A. In ganz Galizien blickt man mit Spannung nach Lemberg, wo einst der Tauro-Sohow, der Chachani Zwi, Rabbi Chajim Cauhen Rapaport, der Jeschuaus Jaakauw und andere Gedaulim gewirkt haben. Von der Wahl des richtigen Mannes kann für die Zukunft der gali- zischen Judenheit viel abhängen.
Raqob (Böhmen). Als Nachfolger unseres nach Prag berufenen Rabbiners, Herrn Tr. Heinrich Brody, wurde Herr Dr. Gustav Sicher gewählt.
Prag. Oberkamor Leo Korniyer m Saaz ist einstimmig zum Oberkantor des demnächst vollendeten Kaiser Franz Joses-Jubiläumstempels gewählt worden.
Arad (Ungarn). Die hiesige orthodoxe Bet- genojjenjchaft, die erst kürzlich vom Minister genehmigt wurde, hat Herrn Rabbiner Juda Soser- Nagy-Sz-Atiklos, Sohn von Rabbiner Samson Soser s. A. in Paks und Bruder des gegenwärtigen Pakschcr Rabbiners, zum Rabbiner gewählt.
Es ist erfreulich, daß sich in Arad, das von jeher als eine Hochburg der äußersten Reform gilt, eine orthodoxe Gemeinde bilden konnte.
Shanghai (China). Die »Jnd. Schule" hat gegenwärtig eine Frequenz von 52 Zöglingen, Knaben und Mädchen. Tie Schule ist eine Elementarschule.
Literatur und Kunst.
Erwerbung einer jüdischen Bibliothek.
Die Stadtbibliothek in Hamburg erwarb unter Beihilfe von Moritz Warburg die aus dem Besitz Dr. A. Lewys stammende wertvolle Sammlung hebräischer Handschristen und Drucke.
Briefkasten.
O. Palästina, Reisebilder von Adolf Friedemanu {JL 4,50, eleg. geb. JL 6); Lieder des Ghetto von Morris Rosenfeld, übersetzt von Betthold Feiwel, künstlerisch ausgestattet von E. M. Lilien {JL 8); Herzl's Zionistische Schriften (zum Ausnahmspreise von JL 3,65 von den Zion. Ortsgruppen zn beziehen); Ter jüdische Almanach.
Aus der Geschäftswelt.
Goll's Patent-Tauerlüfter „Gol- l o i a" ist eine äußerst sinnreiche, praktische und einfache Einrichtung zu unuitterbrochenem Lüsten von Aufenthalts- und Gebrauchs-Räumen jeder Att; er ist unerläßlich nötig dafür, die vorkommenden Verschiedenheiten des Druckes, bezw. der Temperatur und Dichte der Lust jeweils rasch und sicher gegeneinander auszugleichen.
Der Mensch verbringt den größten Teil des Tages in den vier Wänden seiner Wohnung und seines Arbeitsraumes, und es ist auf die Dauer durchaus nicht gleichgültig für seine Gesundheit, wie die Luft, die er einatmet, beschaffen ist. Die uns vorliegenden Anerkennungsschreiben angesehener Pttvate und hervorragender Firmen bürgen dafür, daß in Goll's Patent-Dauerlüfter „Golloia" ein zuverlässiges Mittel zur Reinigung und Reinhaltung der Lust gefunden ist. Wir empfehlen- unseren Lesern, die Kosten nicht zn scheuen; wenn sie erst einmal in einem Raume den selbsttätigen Apparat angebracht haben, werden sie — von seiner wohltätigen Wirkung bald überzeugt — seine eifrigsten Verbreiter werden.
Zn dem Artikel in Nr. 4 „Wieder ein großer Wasserleitungsschaden" wird uns noch mitgeteilt, daß der im Hause Wittelsbacher Allee 117 durch Platzen eines Wasserrohres entstandene' Wasserschaden von der Transatlantischen Feuer-Bersiche- rnn g s-Aktien-Ges ellsch as t in Hamburg in der bekannten coulanten Weise reguliert worden ist, bei welcher die Herren Gebrüder Hübner mit dem obengenannten Grundstück seit kurzem gegen Wasser- leittingsschäden versichert sind.
Zum Mschluß von Wasserleitungsschäden-Ber- sicherungen halten sich die hiesigen Gesellschafts-Vertreter bestens empfohlen (siehe Inserat).