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Paul Nathan, mit dem er während der Po­grome im Aufträge der englischen und amerika­nischen Juden die Unglücksstätten bereiste, um das Hülfswerk zu organisieren. Als Andenken an jene traurige Reise muß er diegroßen Po- gromdokumcnte" ansehen, die er allein nur be­sitzt. Die Pvgronrdokumente sind eine große viel­bändige Sammlung von geschriebenen und ge­druckten Dokumenten in vielen Sprachen über für und wider die Progrome und sie um­fassen alles, was über die Pogrome je geschrie­ben wurde. Zukünftige Historiker werden Carl Stettauer Dank wissen.

Die Ravbiuerkorrserenz zu Wilrm.

i.

Die Rabbincrkonferenz zu Wilna ist meines Wissens die erste ihrer Art in Rußland. Zwar hat unlängst eine ähnliche Konferenz in Warschau stattgesunden; aber diese stand obgleich quanti­tativ Bebeuieitber ihrem Ansehen und ihrer Wirksamkeit nach weit hinter der Wilnaer zurück.

Das Maßgebende ist in erster Linie der Be­stand der Konferenz, d. h. die gesellschaft­liche Stellung und Bedeutung der Männer, die sich an der Konferenz be­teiligten. Während die Warschauer Rabbiner­konferenz fast ausschließlich aus den Rabbinern derpolnischen" Chassidim bestand, auf welcher aber das große Wort Laipn als Vertreter der chassidischen Rabbis oderguten Juden" führten und welche die Rabbis selbst, wenigstens die vor­nehmsten von ihnen, mit ihrer Anwesenheit nicht beerten, waren die Tonangeber der Wilnaer Kon­ferenz die hcrvoragendsten Kapazitäten der gesetzestreuen russischen Juden- h e i t, sowohl aus der Mitte derMissnagdim", als auch aus derjenigen derChassidim" nämlich: Rabbi Chaim Soloweitzik - Brest - Litowsk; R. Jssroel Meir Kohn-Radin, R. Rafael Schapiro-Woloschin. R. Chaim Oser Grodsensky - Wilna, R. Meir Atlaß- Schaulen, alle durchweg rabbinische Größen, die auch in den besten Zeiten der Blüte rabbinischen Wissens unter den ersten gezählt zu werden ver­dienten; von Seiten der Chassidim 'waren die ersten der Gegenwart anwesend, nämlich: der Ljubawitzer Rabbi Schalem Beer Schneersohn, der überaus ge­feierte Zaddik aus Gur bei Warschau und dessen Bruder, der Zaddik I. Lajner aus Radin - Stedletz und die Rabbiner ihres Anhanges wie: Rabbiner David Hirsch Chein-Tschernigow, Rab. I. Rafa- lowitz-Krementschug, Rab. I. Bezpalow - Poltawa. Rab. Heilpern- Odessa, R. Medailin-Witebsk, Rab. Morsche Madiewsky-Chorol und andere.

Die Majorität war auf Seite der Chassidim, teils weil die Initiative zur Wilnaer Konferenz - von ihnen ausgiug und weil sie von vorherein im Personalverzeichnis von 32 Rabbinern und Laien, welches sie dem Minister des Innere unterbreitet haben, meistens Vertreter der Chassidim pingetragen haben, teils weil einige hervorragende Vertreter der Missnagdim, welche, wie man behauptet, vor­aussahen, daß sie mit ihren mehr zeitgemäßen Anschauungen nicht durchdringen werden, es vor­gezogen haben sollen, der Einladung der Konferenz nicht zu folgen, so die Rabbiner R. Hirsch Rabbi­nowitz-Kovno, R. Leiser Rabbinowitz-Minsk und R. Schleimoh Aronsohn-Kiew.

Der Schwerpunkt der Wilnaer Konferenz liegt somit darin, daß aus derselben die hervorragendsten Autoritäten der Chassidim und Missnagdim von . den verschiedenen Provinzen des Ansiedlungsrayon's und Polens sich beteiligten, und das kommt wohl zum ersten Male in so bedeutender Anzahl vor.

Die Tonangeber und Wortführer der Konferenz waren Rabbi Chaim Soloweitzik und der Ljubawitzer Zaddik, beide Männer von eisernem Willen und großer Energie in der Ver­folgung ihrer streng, ja äußerst konservativen Richtung und beide unbedingt die hervorragendsten Autoritäten, der erstere unter den Missnagdim der letztere, unter den Chassidim; dabei gingen sie meist Hand in Hand, ohne einander zu be­einflussen. Dieser Umstand eben hat der Konferenz den Charakter einer solcher genommen. Denn, was dieseKapazitäten äußerten, drang meist durch; niemand wagte so recht ernst, ihnen zu widersprechen.

Die Disziplin bei den Chassidim ist eine rein militärische. Jede Acußerung des Rabbi von Ljubawitz war für seinen Anhang heilig, und wenn die Rabbiner und Laien des letzteren hin und wieder. das Wort ergriffen, so war es meist, um seine Meinung zu bekräftigen und die entgegen­gesetzte oder blos verschiedene zu entkräften.

Wenn nicht ganz so, aber dem ähnlich verhielten sich die Vertreter der Missnagdim zu der Mein­ungsäußerung des Rabbi Chaim Soloweitzik. Die überwältigende Autorität seiner höchst moralischen Persönlichkeit und seines kolossalen rabbinischen Wissens, auf welchem Gebiete er in der Gegen­wart nicht seines gleichen haben soll, und dann die außerordentliche Ueberzeugungskrast seiner streng

Frankfurter MraeÜtWes Famüirnttatt.

logischen Beredsamkeit benahmen den Andersge­sinnten den Mut, ihm energisch entgegenzutreten. Zudem ward er immer kräftig unterstützt von seinem Gesinnungsgenossen, dem Ljubawitzer Zaddik, der an Energie der Redekraft ihm durchaus nicht nachstand und an Rührigkeit ihn weit überragte.

Den Vorsitz führte mit großem Takte, wenn auch mit weniger Energie der rühmlichst bekannte Rabbiner Chaim Oser Grodsensky. Seine Lage war keine sehr beneidenswerte. Als noch junger Mann in der Mitte dieser altehrwürdigcn und allgemein verehrten Greise, welche an parla­mentarische Ordnung nicht gewöhnt sind, eine regelrechte Debatte zu leiten, war durchaus keine leichte Sache, besonders für einen jungen Mann von außergewöhnlicher Charaktermilde und frommer Bescheidenheit, der sich aufrichtig vor der wohl- begründeten Autorität der rabbinischen Kapazitäten der Versaminlung beugt. Wenn dennoch im großen und Ganzen die Debatten in mancher Beziehung mustergiltig waren, so ist es dem feinen Takt und der großen Geschicklichkeit des höchst aufmerk­samen und mit nervöser Spannung die Meinungs­äußerungen jedes Mitgliedes verfolgenden Vor­sitzenden zuzuschreiben.

Im ganzen machte dje Konferenz einen sehr wohltuenden Eindruck. Ich kann mir unmöglich vorstellen, daß der alte römische Senat sich mit größerer W ü r d v (und mit gleichem sittlichen Ern st gehalten hätte. Aufrichtige gegenseitige Hochachtung und volle Aufmerksamkeit gegen jede geäußerte Meinung und Inicht die leiseste Spur von eigensinniger Rechthaberei waren die auszeichnenden Merkmale der Debatten, die so recht in die Angen sprangen.

Was die Resolutionen der Konferenz betrifft, so schreibe ich denselben keine be­sondere praktische Bedeutung zu. Vor allem sollen die Elaborate der Rabbiner-Konferenz blos a!ls Material unter vielem anderen für die .im nächsten Herbst einzuberusende Rabbinerkommission dienen, deren eigene Beschlüsse selbst bis jetzt meistenteils fromme Wünsche blieben.

Wenn die Wilnaer Resolutionen eine Bedeutung haben, so besteht diese darin, daß sie als Gradmesser für die Wertschätz­ung der Geistesrichtung der gegen­wärtigen russischen rabbinischen Koryphäen dienen können; aber auch das nicht ganz, weil diese Resolutionen meist als Aus­druck der Gesinnung der sehr «wenigen Tonangeber der Konferenz, aber nicht zumal «der letzteren selbst dienen. Wenn die einzelnen Mitglieder derselben privatim um ihre Meinung über die - auf der Konferenz behandelten Gegenstände befragt worden wären, hätten die meisten von ihnen wie ich persönlich «Gelegenheit gehabt habe, mich davon zu überzeugen sich sicherlich ganz anders geäußert, als auf der Konferenz. Die Ehrfurcht vor der Autorität hat in ganz auffallender Weise zu Nesias Ponim" geführt, und darin bestand meiner Ansicht nach die Hauptschwäche der Konferenz.

Eine der Hauptfragen, welche die Kon­ferenz beschäftigte, war die pädagogische in weiterem Sinne. Ich war als Experte von der Konferenz eingeladen. Ich glaubte, diese Gelegen­heit zum Zwecke eines mehr umfassenden päda­gogischen Projektes ausnützen zu sollen und ging an's Werk mit der größtmöglichsten Vorsicht. Nach eingeholter Erlaubnis vom Vorsitzenden und auf seinen Rat auch von R. Chaim Soloweitzik und dem Ljubawitzer Zaddik besprach ich mein Projekt mit den einzelnen Mitgliedern, und es schien, als ob die meisten dasselbe billigen. Als aber nach meinem Referate die eben genannten Au­toritäten gegen einzelne Punkte meines Projektes mit der ganzen Wucht ihrer Energie ihre Stimmen erhoben, da fand sich kaum ein einziger und auch der höchst schüchtern welcher es wagte, meinem Projekte das Wort zu reden. Dafür drückten mir mehrere nach der Sitzung ihr tiefes Be­dauern aus, daß mein Projekt nicht durchging. Soviel zur Illustration derNesias Ponim" vor der Autorität. Ueber mein Projekt selbst und seine Gegner ein anderes Mal.

Kehren wir nun zu den Resolutionen der Konferenz zurück, sie seien in aller Mrze auf- gezählt und dann so knapp als möglich beleuchtet und bewertet. F. G.

Die VH. ungarische zionistische Laudeskonsereuz.

(S p e z i a l b e r i ch t.)

Schon seit Wochen stand die weiteste Oeffent- lichkeit unter dem suggestiven Eindruck der bevor­stehenden Landeskonferenz. Freund und Feind sahen ihr erwartungsvoll entgegen, denn alle erhofften von ihr den ersehnten Erfolg. Die einen den endlichen Durchdrang der triumphierenden Idee; die andern das Zusammenbrechen der Organisation vor der breitesten Oeffentlichkeit. Es war eine Frage des Seins oder Nichtseins, die da zur Ent­scheidung gebracht werden sollte, und der Sieg war auf der Seite der Bejaher des Judentums.

*Kt. 21

Hundert Delegierte darunter die charakteristischen Vertreter der misrachistischen Prin­zipien, wie Lebowitch, Grauß, Bcttelheim, Dr. Abra- hamsohn und mit ihnen noch dreiunddreißig Ab­gesandte von 812 misrachistischen Schekelzahlern sind dem Ruse gefolgt und haben durch das bloße Erscheinen schon demonstriert, daß die tollwütigen Loshämmerungen gegen die Träger des national jüdischen Ideals diese in ihren Anschauungen nur befestigt und das breitspurige Gegenargumentieren in der Presse Kreise für den Zionismus interessierte, die bis jetzt völlig indifferent gewesen waren. Hcrbei- geführt wurde der Umschwung zum Teil durch das Memorandum, das die ringarische Landeszentrale als Antwort auf die Verleumdungen der jüdische» Presse und des antisemitischen Anschlags im unga­rischen Parlament, der alles Zionistische mit Haut und Haaren vertilgen wollte, herausgab. Dieses Memorandum in 30 000 Exemplaren ins Land ge­worfen und jedem, der nur irgendwelcher Faktor des öffentlichen Lebens ist, frei ins Haus -gestellt, bereitete den. Boden für die Verhandlungen und Aufklärungen Wolfsohns mit und an den Minister des Innern Graf Andrassy vor, dcni ein Löwen­anteil an unserem Erfolge zu verdanken ist. Da es unserer landespolitischen Leitung weiterhin gelungen ist, in der Person des Grafen Theodor Batthjauyi. dem Präsidenten der reichsrütlichen Kossuthpartei, einen wohlwollenden Protektor zu finden, mußte der Sieg ein durchschlagender sein.

Die Meldungen der Delegierten waren voll der zuversichtlichen Stimmung, die die breite Masse unserer organisierten Zionisten beherrscht und man konstatierte mit Genugtuung, daß auch die k ü n st l i ch e Animosität der Ortho­doxie selbstredend nicht die der offiziellen stark im Abflauen begriffen und unserem Gedankengang ganz nahe gekommen ist. Das scharf gezeichnete misrachistische Element, das sich seit Wochen auf die Konferenz vorbereitete und durch zielbewußte starke Agitation einen ansehnlichen Zu­wachs erfahren hat, kam in den Vorberatungen ent­schieden zur Geltung. Für alle Kommissionen wur­den ihre Kandidaten entgegengenommen und ihrem entschiedenen Auftreten in der Frage des Jaf­fa er jüdischen Gymnasiums war es zu danken, daß die Landeskonferenz die einstimmige Resolution an das E.-A.-K. abgehen ließ, in der der Wunsch ausgesprochen wird,baß es der Lei­tung gelingen werde, den Weg zur völligen Neu­tralität in religiösen Fragen gemäß den Kongreß- bcschlüssen znrückzufinden und dem entsprechend über­all, wo das religiöse Gebiet tangiert wird, die Unterstützung aus öffentlich zionistischen Mitteln in jeder Form zu verweigern." Selbstredend ging der einstimmigen Annahme dieses Beschlusses ein wild entbrannter Kampf nicht nur sm Rahmen der Landes­konferenz voraus. Die extreme Schattierung der Misrachisten, hie in der Subvention des Baugrundes nicht nur das vorzeitige Auflodern des Kultur­kampfes und die Verletzung gemachter Kongreß- beschlüsse, sondern die Unmöglichkeit breiterer zio­nistischer Arbeit überhaupt erblickt, war schwer zu kapazitieren, die endgültigen Beschlüsse für den Kongreß vorzubehalten und sich diesmal mit der scharfpointierten Kennzeichnung des Standpunktes zu begnügen. Andererseits waren die radikalen Ele­mente schwer zu kapazitieren gegen das A.-K., das hier allgemeines Vertrauen genießt, entschieden Stellung zu nehmen. Nur nach schwerer Arbeit konnte es gelingen, mit Intervention des öster­reichischen Reichsratsabgcordneten Stand, die Geister zu beschwichtigen und sie auf obige» Text zu einen.

Das Bolksmeeting im Prachtsaäle des Budapester Gemeinderathauses brachte dem Zionis­mus einen Erfolg, wie er ihn in den kühnsten Erwartungen nicht erhoffte. Nach Tausenden zählte die Menge, die trotz des herrlichen Pfingstwetters enggepfercht den Aus­führungen der zionistischen Pioniere lauschte. Die Worte des Abgeordneten Stand, die bei der glühenden Sympathie für das konser­vative Judentum, in dem er den Erhalter des Judentums sieht, der die goldene Brücke zwi­schen der strahlenden Vergangenheit und der glor­reichen Zukunft bildet, wie Donnerkeile auf unser assimilantes Magyaro - Mosaikertum niedersausten, hatten faszinierende Wirkung.Assimilation als einziger Grund ihrer Existenz, ist die letzte Ursache ihres unaufhalt­samen Untergangs." Eben so wenig, wie der Mohamedanismus durch den Tod Mohameds, die.Reformation durch das Ableben Luthers oder die Idee der Entdeckung Amerikas durch die Ketten die man um den Leib Kolumbus schmiedete, zer­stört werden konnten, kann die Idee der endlichen Erlösung unserer Massen, die durch Herzl und seine Vorläufer in uns entzündet wurde, durch den Tod dieses ungekrönten Königs der Juden oder die Hammerschläge unserer Hasser und Verräter der Vernichtung anheimfallen."

Dr. Kohan Nissan konstatierte die Zunahme der Schekelgelder um 220 Prozent, das Wachsen des Interesses für die zionistische Institutionen in gleichem Verhältnisse und empfahl zur ein­stimmigen Annahme eine Resolution, die dem E.-A.-K. volles Vertrauen und die Zuversicht aussprach, daß es diesem gelingen werbe, getreu