Seife 2
DIE NEUE WELT
ihn. Der Monsignore kehrte nach Jerusalem zurück, fromm und bieder. Und jetzt ist er entrüstet. Er nimmt eine durchaus freundliche Stellung zum Judentum ein. Sagt der Patriarch.
Darüber werden sich wieder viele freuen und ausführen, wie schön es doch auf dieser Welt zugeht. Die erbittertsten Feinde widerrufen. Aber es ist doch nicht so ganz richtig um diese Reue bestellt. Fords Buch wird weiter verkauft und die dummen Lügen werden weiter ihren Weg finden. Wird derjenige, der in diesem Buche liest, daß „der Jude Ke- rensky" an Rußlands Zusammenbruch.schuld ist oder daß Baron Montefiore geraten hat, „wir müssen die Zeitungen der ganzen Welt beherrschen oder beeinflussen, um die Völker zu blenden und zu täuschen" — wird dieser Leser dadurch, beeinflußt, daß Ford sagt, er habe nichts gesagt? Bs ist ein Weltschwindel im Gang und der Häuptling der Kukluxer benimmt sich stilgemäß. Ihm folgt der lateinische Patriarch. Die Selbstzufriedenheit der Juden will sich nicht stören lassen. Sie muß aber doch zur Erkenntnis kommen, daß der Todfeind unablässig am Werk ist. Er erscheint auf allen Gebieten. In den Ländern der Zerstreuung strebt er die Entrechtung und Atomisie- rung des Judentums an, in Palästina will er ihm sein Letztes und Höchstes, seine Zukunft rauben. Wenn das Aufsehen zu groß wird, dann kommt ein Widerruf. Aber er. kann den Schaden nicht mehr gutmachen. Nur das Judentum kann dies erreichen, wenn es dieses Spiel durchschaut und auf der Hut bleibt. Wenn es erkennt, daß Antisemitismus und Ahtizionismus Zwillinge aus demselben Geiernest sind und wenn es jeder Bezeigung von gleißnerischer Sympathe das stärkste Mißtrauen entgegensetzt. Wir sind von Feinden umgeben und leben in einem Meer des Betruges.
Ein Nachruf.
Am 17. September d. J. ist die „Wiener Morgen- .zeitung" nicht mehr erschienen.'Nach mehr als acht Jahren der Arbeit, der . Mühen und der Opfer mußte eine Unterbrechung des Betriebes vorgenommen wer- ' den. Es sind alle Anstrengungen im Zuge, uni der jüdischen Oeffentlichkeit in kürzester Frist wieder ein Tagesorgan zu geben. Einstweilen aber besteht die Tatsache, daß ein jüdisches Blatt sich nicht halten konnte und daß dieser erste Versuch, in einem großen politischen Zentrum Mitteleuropas, inmitten einer der stärksten jüdischen'Gemeinden eine jüdische Tageszeitung herauszugeben, mißlungen istl Dieses Blatt wollte der jüdischen Idee'dienen;'das Scheitern des Versuches besagt nichts gegen die Idee; aber es zeigt doch grell die wahre Verfassung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, es beweist, wie rasch der Zeit der lebendigen-Aktion des Forderns'und des Lebenswillens wieder die Reaktion' der- Müdigkeit gefolgt ist. .' . *
Es hat sich bis zürn heutigen Tage innerhalb des Judentums keine organisierte öffentliche Meinung bilden können. Das ist, eine fast unverständliche Erscheinung in einer Zeit, in der die Juden in allen Ländern einen geradezu' leidenschaftlichen Hang zum politischen Leben zeigen. Die Erklärung liegt darin f daß die nationale Bewegung im Judentum erst vor ,dreißig Jahren eingesetzt hat und. daß .sie trotz, ailejs Enthusiasmus die Schützengräben der Politik nicht hat überwinden, können. Die sprachlichen Schwierigkeiten'sind sehr groß, eine einheitliche Presse konnte nicht geschaffen werden, weil das Judentum trotz aller Hebr£isierungsbestrebungen noch nicht in den täglichen Besitz einer einheitlichen.Sprache,gelangen konnte. Es ist allerdings noch nie dagewesen, daß das Mutterland von der Diaspora kolonisiert wurde und infolgedessen kann auch der sprachlichen Zerklüftung kein Beispiel an die Seite gestellt werden. Diese Verwirrung ist noch dadurch vermehrt worden, daß der Wanderungsprozeß im Judentum noch immer an r dauert, ja sich sogar noch verstärkt hat. Seit dem Weltkrieg ist diese Weltwanderung noch viel umfangreicher geworden und die? jüdischen Volkstrümmer bringen überall hin ihre Sprache mit, um dann nach zwei Generationen in der Majorität zu verschwinden.
Unleugbar hat aber' die nationale Strömung innerhalb des Judentums 'ein politisches Leben geschaffen. Das Judentum stellt polirische, nationale, wirtschaftliche und soziale Forderungen auf. Aber es begegnet überall deF antisemitischen Strömung, die in demselben Maße gewachsen ist, als sich der Regenerationsprozeß im Judentum entwickelte. Es gibt heute' eine antisemitische Internationale, die in allen Sprachen arbeitet, in allen Formen auftritt und sich in alle Parteien eingeschlichen hat, die nur irgendwie mit der Judenfrage in Verbindung kommen.' Diese Strömungen benützen die Weltsprachen; ihre Zeitungen und Schriften erscheinen in den romanischen,, germanischen und angelsächsischen Idiomen und sie haben fast unbeschränkte Mittel zur Verfügung. Wenß man bedenkt, daß zum Beispiel der deutsch* nationale Hugenberg-Konzern an dreitausend Tageszeitungen kontrolliert, daß die Schriften H. St, Cham-
berlains in Hunderttausenden von Exemplaren zu ijilligem Preis verbreitet werden^ daß die Protokolle der .Weisen von Ziott in sämtliche Kulturstfrächen, ja sogar ins Arabische übersetzt worden sind und vielfach umsonst abgegeben werden, so muß man darüber staunen, welche Fonds aufgewendet werden, noch mehr aber muß man über die Apathie und Lethargie des Judentums staunen, die es fast widerspruchslos und ohne Gegenwehr duldet, daß dieses Gift in Tausenden von Kanälen in die Volksseele geleitet wird. Es ist gewiß wahr, daß das Judentum in allen Ländern seine Armenpflege und seine Fürsorge selbst auf sich nehmen muß, also Aufgaben, die sonst eine Regierung zu erfüllen hat. Aber wenn nur ein kleiner Teil der Summe, die im Judentum jährlich für Synagogenbauten und Prunktempel aufgewendet wird, dem politischen Zweck, der Verteidigung und des Gegenangriffes dienstbar gemacht würde, dann könnten auch wir für Aufklärung und Wahrheit sorgen. Es wäre von der größten Bedeutung, daß wir dem Zentrum der internationalen' Vergiftung nachgehen, daß wir zeigen, daß alle Personen im Vordergrund des antisemitischen Kampfes korrupte und bestochene Individuen sind und daß wir den Zusammenhang zwischen Antisemitismus . und allgemeiner Reaktion öffentlich nachweisen. Dazu brauchten , wir die organisierte öffentliche Meinung, also eine jüdische Presse.
*"V.-; In den letzten Jahren hat das Judentum zweifellos durch die Balfour-Deklaration und das Völkerbundmandat einen großen Schritt nach vorne getan. Aber es konnte im Judentum nichts unternömmen werden, um .'diese politischen Erfolge in das geistige Bewußtsein .des Volkes zu überführen, weil die jüdische Presse,' soweit sie besteht, nicht einheitlich vorgeht, weil ' es im Judentum kein einheitliches politisches Zentrum.' gibt' und weil die jüdische Presse, zumeist in Sprachen erscheint, die der nichtjüdischen Umgebung und auch einem großen Teil der jüdischen Gemeinschaft-selbst fremd sind. Jiddisch und . Hebräisch wirken im politischen. Sinn isolierend. Sie können nur innerjüdische kulturelle Aufgaben erfüllen, aber keine politischen. Die jüdische Presse. des Ostens führt' beiläufig dasselbe Dasein wie. die magyarische oder tschechische, die außerhalb .ihres Erscheinungskreises nicht gelesen und nicht verstanden wird. Magyaren und Tschechen sind allere dings. im Besitz ihrer staatlichen Unabhängigkeit und .verfügen .über eine geschlossene, territorial einheit- .liehe Volksmasse. Trotzdem haben- sie sich, um eben verstanden zuVweräei?.,' 5 französische oder deutsche Orkane 'gescharf&n.^Barä^^
lern'en. Wer soll ihre Forderungen verstehen, wenn sie nicht in einer gebräuchlichen Sprache erscheinen? Sprache' ist nür ein 'technisches Ausdrucks- mittel des Gedankens und wir müssen uns .im Golus von jedem Kehlkopfpatriotismus fernhalten, der nur eine -chinesische ; Klauer • zwischen uns und den Völkern aufrichtet, mit denen wir uns doch verständigen'wollen;
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... .. Es war die Aufgabe der „Wiener Morgenzei- iung",.., diese AVerständigung , zu fördern., väie hatte 'täglich;' zü. den JudenJ uri'dhfctf den. Nichtjudbrl^zu sprechen; sie. hatte ,:täg.lich diö Sorgen und- Interessen der luden als Volk, als Individuen, als Bürger-zu-ver- treten ■uhdi. sierhatte, deji^größen'; jüdischen"-^ükiiltfts- ^danke»...;^ un d' Selbst-
'bestimmung in die. weiten Kreise zu tragen. Aber diese Zeitung .ist in einer geradezu unerklärlichen und. unverständlichen Weise gerade von, denen mißachtet und sogar mißhandelt worden, denen sie Organ und •Exponent sein sollte. An dem Schicksal dieser Zeitung .erkennt ,man den Zustand, in. dem sich das Judentum befindet, aber auch die Gefahr, in welche der Zionismus geraten ist. Die Zionistische Organisation hat schon zuviel von ihrem Kampfgeiste verloren. Der Geist des Ghettos, die Angst der Judengasse vor den Mächtigen drohen in den Zionismus einzudringen. Die Leitung der.Weltorganisation sucht heute das Kompromiß, mit den nichtjüdischen. Juden und sie will •;einem,Linsengericht das. Erstgeburtrecht opfern. Und der Geist der Verzagtheit macht sich allerorten breit. Das, was das Wesen des Zionismus darstellt, das Bekenntnis, der freie Stolz des freien. Menschen, ist in Verruf geraten. Nur der Sammelbüchse will man Achtung zollen! Was sollte da ein Blatt, das die um angenehme Gewohnheit hatte, die Wahrheit zu sagen und sich ' jeder Assimilation, jeder Nachläuferei zu widersetzen? Das dem Nervenkitzel der Großstadt, dem Bedürfnis der Sensation keine Konzession machen wollte?! Niemals ist in diesem Blatte auch nur ein Wörf gestanden, das als Verleugnung' zionistischer Grundsätze hätte gedeutet werden können. Und immer hat in diesem Blatt die Auffassung geherrscht, "daß die jüdische Idee alles in sich begreift, was bejahend wirken will. Dieses Blätt hat keiner Sonder- grtfppe gedient; es Ist zionistisch gewesen, zionistisch im weitester} Sinne des Wortes. Das ist nicht ver- sstanden worden. Deshalb wurde die „Wiener Morgenzeitung" isoliert und so mußten mehr als acht Jahre blutigster Nervenarbeit verlorengehen. Sie ist. aber doch nicht so ganz, nutzlos gewesen. In den — nipht-
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Klub radikaler Zionisten _
Mittwoch, den 28. September 1927 um halb 9 Uhr abends findet im Klublokale Cafe Atlashof, Wien, I., Aspernplalz eine
Klubversammlung ^
Gegenstand:
Aussprache Uber den Basler Konsreß
Einleitendes Referat:
Robert Stricker
Im österreichischen Landesverbände organisierte Zionisten als Gäste willkommen. Zu dieser Ver- §5 samm ung ergehen keine besonderen Einladungen ==
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jüdischen Kreisen ist die „Wiener Morgenzeitung" geachtet und beachtet gewesen. Sie hat wenigstens dort, wo man auf Loyalität und Willen zum Verständnis rechnen darf, dem jüdischen Gedanken Respekt verschafft. Und so ist doch eine Erbschaft da, die die kommende Tageszeitung wir.d ungeschmälert antreten können.
RUNDSCHAU.
Der Kongreß der englischen Trade Unions in Edinburg, der anfangs dieses Monats getagt hat, wird in der internationalen Politik einen sehr wichtigen Raum einnehmen. Er wird zwar in Mitteleuropa und insbesondere in Wien wenig beachtet, obzwar er politisch eine Sensation bedeutete. Die englischen Gewerkschaften entschieden sich nämlich mit einer so großen Mehrheit, daß die Minorität vollständig verschwand, für d i e Lbssa g u n g von den russischen Gewerkschaften. Es ist noch erinnerlich, wie stark die letzte große Streikbewegung Englands und insbesondere die der Bergarbeiter von Rußland beeinflußt war und das Vorgehen gegen die Arcos-Gesellschaft war ja von-diesen Einmengungen direkt provoziert gewesen. Die englische Arbeiterschaft verfügte übe- einen sehr radikalen Flügel, der sich .den Einflüsterungen von auße.n sehr gehorsam zeigte. .per' Streik ging aber verloren lind . so .vollzog sieji. v 4er '..überraschend Sache ist für die" Weltprodüktiön von größter ^Bedeutung. . ,-'.
Ebensosehr aber auch für die.weitere politische Entwicklung, denn die Propagandasysteme, des Bolschewismus und die künstliche Radikalisierung, die Europa so sehr in der Sanierung hindert, sind wieder einmal an einen bedeutsamen Punkt der Front zurückgedrängt worden. England ist ja jenes Land, aus dem die ersten Ansätze einer sozialen Politik gekommen sind; in England ist nicht nur die liberale Doktrin, vom freien Spiel der Kräfte ausgebildet worden, auch die wissenschaftliche Erforschung des .Verhältnisses zwischen Arbeit und Kapital ist . in England lange vor Marx begonnen worden.'
Aber die frischeste Aktualität erhält der Gewerkschaftskongreß für. uns .in Oesterreich,, wo. sich auf geringem Territorium die härtesten Kämpfe zwischen rechts und links'äbspielen, die ja zu'Kämpfen im buchstäblichen Sinne des Wortes geworden sind. In dem Streben nach der Macht und nach dem festen Besitz der Machtmittel ist hier beiden Teilen das Verständnis für die Möglichkeiten abhanden gekommen und so ist der interessante Fall eingetreten, daß auf dem Kongreß für sozialen Fortschritt, der jüngst in Wien stattfand, von den Wortführern der Extremen, von Seipel und von Seitz, zwei einander direkt widersprechende Lehrsätze vorgetragen wurden. Seitz sagte: Sozialpolitik ist Machtfrage; Seipel erwiderte: Sozialpolitik is* nicht Pärteisache. Der Sozialdemokrat sieht in allem nur ein Mittel des Klassenkampfes, der Christlichsoziale nur eine Funktion des Staates. Aber ist dieser Staat, wie er ihn auffaßt, nicht wieder eine von der anderen Seite gesehene Form des Klassenkampfes? Der eine will alles den Forderungen und Ansprüchen des Besitzes unterordnen, der andere strebt nach de,r Niederringung der Bürgerklasse Wnd sein letztes Ziel ist der bolschewikische Staat. Und doch ist das Forum, vof dem diese Sentenzen ausgebreitet wurden, die strikteste Widerlegung gewesen. Denn es vereinigte Arbeitgeber und Gewerkschaftsführer und bewies, daß es über alle Gegensätze von Staat und Gesellschaft eine.Gemeinschaft gibt und daß eine mittlere Linie sehr wohl denkbar ist, Sozialpolitik ist Politik, ist das Eingreifen der organisierten Gesellschaft zum Schutze der Schwächeren. Das erfordert alle Kräfte und verbietet direkt den Klassenkampf, der hur Haß und Mißverständnis erzeugt und dessen Prediger davon leben, daß sie Haß erzeugen. Sie sind in allen Lagern zu finden und sie wehren sich dagegen, daß Sozialpolitik eine Frage der "wachsenden Erkenntnis