Bayerische
Rachrichtenblatt öer Israelitischen Kultusgemeinüe in München unö öes Aerbanöes Bayerischer Israelitischer Gemeinöen
Israelitische GemeLnöezeitung
Lrschetnt am Anfang jeden Monats. — Verlag: B. Heller, München, Herzog Marstraße 4/ Zernsprecher 550 99 / Postscheckkonto Rr.zpS/ München. Schristleitung: Sr. Lugen Schmidt, Rechtsanwalt in München, Karlstraße 6.
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192,7 München, 5>. Februar Nr.L
Inhalt: Religion — Körperliche und seelische Ertüchtigung — James Bieberkraut, der Maler und Radierer — Das „Judenbüchlein" eines protestantischen Geistlichen gegen die Ritualmordbeschuldigung der Juden — Die Reichsgründungsseier der Universität München — Aus dem Verbände — Lehrerzeitung — Aus der Gemeinde — Bücherschau — Vereine — Amtlicher Anzeiger: Einladung zur Versammlung des Rats und der Tagung — Bekanntmachung: betreffend Vor-
beratung für die Tagung des Verbandes vom 13. und 14. März 1927 — Bekanntmachung: betreffend Ersatzwahl — Bekanntmachung: betreffend die Erweiterung des Gebietes der Israelitischen Kultusgemeinden Altenkunstadt, Bayreuth, Burgkunstadt, Hof und Schwabach — Perfonalia — Kalendarium — Beilage: Grundsätzliche» Fragen der Kultusgemeinde-Verfassung und -Verwaltung.
Religion
von Dr. Eugen S
„Dem einzelnen Menschen mögen mancherlei persönliche Ziele, Zwecke, Hoffnungen, Aussichten vor Augen schweren, aus denen er den Impuls zu hoher Anstrengung und Tätigkeit schöpft; wenn das Unpersönliche um ihn her, die Zeit selbst der Hoffnungen und Aussichten bei aller äußeren Regsamkeit im Grunde entbehrt, wenn sie sich ihm als hoffnungslos, aussichtslos und ratlos heimlich zu erkennen gibt, und der bewußt oder unbewußt gestellten, aber doch irgendwie gestellten Frage nach einen» -letzten, mehr als persönlichen, unbedingten Sinn aller Anstrengung und Tätigkeit ein hohles Schweigen entgegensetzt, so wird gerade in Fällen redlicheren Menschentums eine» gewisse lähmende Wirkung solches Sachverhalts fast unausbleiblich sein,..."
(Thomas Mann, „Der Zauberberg", S. 58.)
Der Zusammenbruch der Welt in der Katastrophe des Krieges hat unsere Unruhe und Unsicherheit stark vermehrt, die sich nun in einem um so rastloseren Bemühen, die äußeren Dinge zu gestalten, auswirken.
Es ist müßig, ein Primat der körperlichen vor der geistigen Welt oder umgekehrt aufftellen zu wollen. Der Zusammenbruch der geistigen Welt ging mit dem Zusammenbruch der körperlichen Welt Hand in Hand und eine neue Ordnung muß Platz haben in den Dingen, von der Sauberhaltung der Straßen und Plätze bis zur pünktlichen Ankunft der Eisenbahnzüge, wie im Geistigen.
Die äußere Unordnung, die Unsicherheit in den äußeren Dingen des Lebens treibt zu stärkerer Anlehnung an jene höheren geistigen Werte, die die Eigentümlichkeit besitzen, von äußeren Wechselfällen des Lebens ' nicht berührt zu werden und die in ihrer Unberührtheit einen ruhenden Pol dem unruhig Gewordenen bieten. Ein Gebot der Selbsterhaltung! Eine gesunde Reaktion also, wenn sie nicht dazu führt, sich von den Schwierigkeiten der äußeren Dinge in unschwierigere Sphären zu flüchten. Dies ist nicht die Haltung, die wir brauchen, dies ist nicht die Orientierung, die wir nötig haben, die vor den äußeren Din-
m i d t (München)
gen des Lebens versagt. Sie genügt so wenig, wie das Evangelium der Wirtschaft, für das alles Heil im reibungslosen Ablauf materieller Funktionen beschlossen liegt.
Schnell haben sich die Führer gefunden, die marktgängige Ware den Seelen anbieten und schneller noch sind die Anhänger versammelt. In zahllosen spiritistischen okkultistischen Kon- ventikeln finden solche Zuflucht, die keim andere Zuflucht mehr haben. Und, die ohne Hoffnung sind, suchen sich zu betäuben, indem sie, eine menschliche Gebetsmühle, sich vorsagen, daß es ihnen Tag für Tag in jeder Hinsicht besser und immer besser gehe. Ein Verfahren, das, abgesehen von allen sonstigen Bedenken, schon dadurch sich desavouiert, weil man keine Unmöglichkeit sieht, auf diese Weise zu der Überzeugung zu gelangen, daß man der Kaiser von China sei. Erstaunlich ist es — und es zeigt auch die Wurzel der Not — in welch ausgedehntem Maße hier religiöse Formen benützt werden und an religiöse Gefühlssphären gerührt wird. Dies ergibt schon ein flüchtiger Blick in Bücher solcher Systeme. Etwa, wenn wir tefen 1 : „Es genügt alle Tage, wie man als Kind gewohnt war, ein Morgen- und Abendgebet zu sprechen, z. B. folgenden Wortlautes: In jeder Hinsicht geht es mir Tag für Tag in allem körperlich und seelisch gut..." Oder jene Blasphemie: „Wir müssen lernen, in uns wirksame Illusionen zu erzeugen — Dies ist dann die Art Glaube, von dem die Schrift sagt: „er versetzt Berge." Wenn man früher folgende Worte gelesen hätte: „Sie fühlen, daß eine Kraft in ihnen ist, die den Mut zum Handeln gibt", so hätte man an ganz anderes gedacht, als an eine „wirksame Illusion" oder an eine „Autosuggestion kräftiger Art".
Solche Verirrungen lassen uns jedoch gewahr werden, wohin die tiefste Sehnsucht unserer Zeit geht: nach der Religion!
i Dr. Gulat Welkenberg, „Das Wunder der Autosuggestion", Kempten 1926.