Mitteilungen des IfraelitiMien Lehreevereins für Wem
Schriftleitung: M. Rosenfeld, München
1928 München, 15. Februar Rr. 2
lüdische Schul- und LehrerverhSltnlge ln kessen
Eine Buchbesprechung von Max Adler (München)
Im Jahre 1908 erschien eine Denkschrift des Kollegen Dingfelder über die soziale Lage der israelitischen Lehrer in Bayern. Bei der Besprechung der Gehaltsverhältnisse der jüdischen Religionslehrer heißt es da: „Das nun folgende Kapitel enthält nur wenig Erfreuliches; aber um so mehr des Unangenehmen, ja Beschämenden ... beschämend ist es für die jüdische Gesamtheit, daß man dem Lehrer wohl der jüdischen Familien bestes Gut — 1 die Kinder — zur Obhut anvertraut, für so hohe Aufgabe aber ihn so schlecht entlohnt."
Diese Denkschrift hat glücklicherweise heute nur mehr historische Bedeutung: denn die beklagten Verhältnisse haben sich — in Bayern! — gebessert.
Für verschiedene andere Gebiete des Deutschen Reiches scheint dieses Urteil Dingfelders vom Jahre 1908 heute noch zutreffend zu sein. Das beweist in drastischer Deutlichkeit die soeben erschienene Schrift des Kollegen Lebermann (Darmstadt) über „Jüdische Schul- und Lehrerverhältnisse in Hessen" (Sonderdruck aus dem Jahrbuch der Jüdisch-literarischen Gesellschaft.). Es hieße allerdings den bayerischen Verhältnissen von 1908 Unrecht zufugen, wollte man sie den hessischen Zuständen gleichstellen. Wenn Dingfelder von Beschämung schreibt, welche die unwürdige Lehrerbesoldung auslösen sollte, so genügt dieses Wort nicht, um die Gefühle zu charakterisieren, die das Äsen dieser vortrefflichen Schrift her- oorruft. Lebermann hat recht, wenn er einleitend schreibt: „Das ehemalige Großherzogtum Hessen (jetzt der freie Volksstaat Hessen) durfte neben einigen altpreußischen Provinzen schon seit langem in Bewertung der jüdischen Schule und des jüdischen Lehrers den zweifelhaften Ruhm bewährter Rückständigkeit beanspruchen. Und der christliche Lehrerführer Backes hat die Lage richtig eingeschätzt, wenn er den jüdischen Lehrern Hessens den Rat gab, an die Grenze dieses Ländchens eine Warnungstafel mit der Inschrift anzubringen: „Israelitischer Religionslehrer, der du hier eintrittst, laß deine Hoffnungen sinken."
Man wäre gar zu leicht geneigt, die Ausführungen Lebermanns für Übertreibungen zu halten. Aber Lebermann stellt keine Behauptung auf, für die er nicht den dokumentarischen Beweis erbringt. Es ist überhaupt erstaunlich, mit welcher Geschicklichkeit, welcher Sachkenntnis und welchem Fleiße sich Lebermann durch die zahllosen amtlichen Dokumente und Akten hindurch gearbeitet hat. Zweifellos ist diese Arbeit vorbiLlich für alle späteren Arbeiten dieser Art, deren Durchführung auch für andere Gebiete des Deutschen Reiches äußerst wünschenswert wäre.
Lebermann war bis vor einigen Jahren der Führer des unabhängigen Vereines israelitischer Lehrer in Hessen. Die bayerischen Kollegen werden sich einer Auseinandersetzung erinnern, die im Jahre 1921 zwischen einigen bayerischen Lehrern und Lebermann in der „Freien Lehrerzeitung" stattfand. Wir gaben damals Lebermann nicht recht, weil wir seine Taktik für verfehlt hielten. Wenn wir heute das Büchlein Lebermanns lesen, kommen wir allerdings zur Überzeugung, daß Lebermann damals gar nicht anders handeln konnte, denn die Notlage der jüdischen Lehrer Hessens war ja himmelschreiend.
Im letzten Teil seiner Schrift behandelt Lebermann die Geschehnisse seit etwa 1900. Hier scheint mir die Arbeit des unabhängigen Vereines israelitischer Lehrer in Hessen etwas stark belichtet und die Tätigkeit des allgemeinen israelitischen Lehrervereins in Hessen (es gab dort bekanntlich zwei jüdische Lehreroereinigungen) zu wenig berücksichtigt. Jedenfalls gewinnt man aus diesem Teil der Arbeit die Überzeugung, daß die damalige Spaltung des Lehrervereins sehr schwere Nachteile für die hessische Lehrerschaft mit sich brachte. Ob die Spaltung notwendig war oder nicht, soll hier nicht untersucht werden. Daß aber auch jetzt noch manches Mißtrauen der hessischen Kollegen zu überwinden ist, beweisen die Anträge des dortigen Lehrervereins zur diesjährigen Lehrerverbandstagung.
Wieso konnte die Rechtfertigung der jüdischen Lehrer in Hessen einen solchen Grad erreichen, wie ihn Lebermann schildert? Lebermann machte die hessische Regierung und das Übermaß der Macht der jüdischen Vorstände dafür verantwortlich. Sicher trifft aber auch die sogenannten „Lehrer", die vor 100 Jahren in Hessen amtierten, ein gerüttelt Maß von Schuld. Aber schließlich hat jedes Land die Lehrer, die es verdient. Sehr bedauerlich ist es nur, daß auch die jetzige Lehrergeneration in Hessen unter dem Fluche dieses „Erbes" zu leiden hat.
Interessant ist im ersten Teil der Schrift die Charakteristik dieser vorsintslutigen „Lehrer" zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Im Jahre 1714 wurde den jüdischen „Schulmeistern", welche „keine Handlung treiben", das Schulgeld erlassen. Jeder ehrliche und — andere Jude, der sonst nichts zu treiben wußte, wurde nun „Lehrer", so daß ein amtlicher Bericht von 1807 von solchen „Lehrern" behauptete, sie seien „herumschweifende Taugenichse, meist aus Polen gebürtig, leer an Kenntnissen". Im Jahre 1821 wurde der Prüfungszwang eingeführt. Recht amüsant ist die Lehrerprüfung des Kaufmanns Hähnle, dessen Examen eingehend geschildert wird und der dann das Zeugnis eines Lehrers von Lorch erhielt, weil „die dortige Judenschaft auf kein besseres Subjekt zählen könne".
Von den vielen Beispielen, in denen Lebermann das rigorose Verhalten der jüdischen Gemeinden zeigt, sei hier nur eines aus dem Jahre 1835 erwähnt. Die Gemeinde Büdingen wollte eine jüdische Volksschule errichten. Als ihr aber zur Bedingung gemacht wurde, daß „die Entlassung des Lehrers von dem lustigen Willen der sehr unruhigen Judengemeinde nicht abhängen dürfte" zog die Gemeinde ihren Antrag zurück.
Sehr interessant ist auch die Ausstellung der Gehaltsverhältnisse der jüdischen Lehrer vom Jahre 1837. Die meisten hatten „Wandeltisch" und Jahresgehälter zwischen 36 und 95 fl. (Dafür waren sie nicht nur Lehrer, Kantoren und Schächter, sondern mußten auch noch das sehr ehrbare Gewerbe des Bartzwickers ausüben!)
Immer wieder liest man in den amtlichen Schriftstücken, daß „die Lehrer von den Launen der einzelnen Gemeindemitglieder zu abhängig" seien. Denunziationen bei Behörden, Schikane! und Entlassungen durch die Gemeinden, das war ein ganzes Jahrhundert lang das Schicksal der jüdischen Lehrer Hessens.
Jede Seite des Lebermannschen Buches bringt hierfür urkundliche Beweise, die zum Himmel schreien.
Mit Recht beklagt Lebermann auch für die Gegenwart, daß das Recht der Anstellung und Entlassung der Lehrer heute noch den Gemeindevorständen verblieben, daß die Besoldung in sehr vielen Fällen eine sehr unwürdige sei. Er appelliert an das Arewus-Bewußssein der hessischen Juden und verlangt, daß die beiden hessischen Gemeindeverbände in allen wirtschaftlichen und sozialen Fragen zusammenarbeiten. Der Schluß ist ein Weckruf an die hessische Judenheit zur Erhaltung der absterbenden jüdischen Kleingemeinden. Ob Lebermann mit diesem Aufruf Erfolg hat?
Wir haben auf Grund unserer bayerischen Erfahrungen die Überzeugung, daß nur ein mit dem Steuerrecht ausgestatteter Gemeindeverband die Verhältnisse meistern und die Ziele erreichen kann, die im Interesse des Judentums erreicht werden müssen. Möge es auch den hessischen Juden gelingen, eine gemeinsame Plattform zu finden, auf der die beiden jüdischen Richtungen zum Wöhle des Gesamtjudentums zusammenarbeiten können. Wohl sind die jüdischpolitischen Verhältnisse in Hessen für ein gemeinsames Arbeiten viel ungünstiger gelagert als in Bayern; aber vielleicht wird das Werk gelingen, wenn zielbewußte Führer wie Lebermann mit Energie daran arbeiten.
Möge seine wertvolle Schrift, der wir eine weite Verbreitung wünschen, zur Erreichung dieses Zieles beitragen!
Personalien
Speyer. Am Freitag, dem 5. Februar 1928, starb im Alter von 56 Jahren die Gattin des Lehrers Bachenheimer in Zweibrücken, Frau Frieda Bachenheimer, geborene Katten, eine liebenswürdige, in der ganzen Stadt angesehene Dame. Kr.