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Bayerische Israelitische Gemeindezeitung
Nr. 7
Probleme des modernen Judentums
Zu der Neuausgabe des Buches von Jakob Klatzkin
Aus dem Inhalt: Irrwege eines nationalen Instinkts — Die Existenzfrage des modernen Judentums — Die Opposition gegen den Mythos — Die Kabbala — Rätsel der Dauer des Judentums — Ost- und Westjudentum — Das amerikanische Judentum — Die historischen Diasporazentren — Antisemitismus als Abwehr — Ein theoretisches Versehen der Judenemanzipation — Ein Judentum aus Pathos der Distanz — Der moderne Chassidismus — Das Adelsbewußtsein und das Glücksgefühl des traditionellen Judentums — Das Verhältnis des Judentums zum Christentum — Die Religiosität der jüdischen Moderne — Die sittlichen und ästhetischen Motive im Zionismus — Nationalismus und Universalismus im Judentum.
Wenn bedrucktes Papier überhaupt noch imstande ist uns zu erregen, so ist es dieses klare, Helle Buch, das keinen trivialen Gedanken, keine konventionelle Wendung enthält.
Es ist ein Dokument, ein großes Bekenntnis, ganz unabhängig vom Tag und den Zeitereignissen. Es schnürt uns mit seinen unentrinnbaren Anklagen und Folgerungen die Kehle zu und trifft unS ins Herz.
Die Ruine der Religion! Die Ruine der Sprache! Die Ruine des jüdischen Nationalismus im „Exil"! Die Ruine des westeuropäischen Judentums!
Den Juden aller Richtungen wird hier unverdeckt die Wahrheit gesagt, mit der Gesinnung und mit dem Freimut der alten Mischen Führer klassischer Prägung.
„... die Sehnsucht nach Selbst und Eigen, nach dem verlorenen oder verschütteten Urquell verzehrt uns, verschönert und veredelt noch einmal unser zwiespältiges Dasein durch Reize des Kampfes und des Schmerzes —."
Bis zu dem kurzen Schlußkapitel Über „Die zionistische Zuversicht" sind neun Zehntel des Buches die Klage vom Untergang und von der inneren Auflösung eines edlen, mißhandelten und gesunkenen Volkes.
Wenn wir nicht gegen das gesprochene und geschriebene Wort so abgebrüht wären wie im Jahre 1930, müßte ein solches Buch wirken wie die großen prophetischen Zeugnisse des kranken Kummers und der unheilbaren Vergrämtheit, wie die Bücher von Iesaias, Jeremias und die Briefe von Spinoza.
Eine Polemik gegen die These des Buches von der „Zukunfts- losigkeit des Galuth" (des Exils), also des außerpaläftinischen Daseins der Juden, ist angesichts des Klatzkinschen Dokuments nicht am Platze.
„Das Geheimnis des zweitausendjährigen Bestehens einer exterritorialen jüdischen Wirklichkeit ist das Geheimnis der jüdischen Religion.... Die Zerstörung unserer Religionsverfassung ist die Zerstörung unseres dritten Hauses, unseres Hauses im Galuth.... Auch das neueste Bemühen moderner Reumütiger, die ihre Liebe zu dem in ihnen längst erloschenen Glauben gleichsam nötigen, .... zeugt nur von der Zwangslage der inneren Gebrochenheit.... Es gibt eben kein Surrogat für die Religion .... Ist der Glaube.. erstorben, dann gibt es für die Religion kein Nachleben, kein Weiterleben."
Furchtlos, wahr und folgerichtig können die Klatzkinschen Ideen nur wie unerreichbare, aus der Ferne strahlende Sterne einen Standort auf unseren verwirrten Wegen anzeigen, aber wie alles Furchtlose, Wahre und Folgerichtige keine praktische Bedeutung für unsere Entscheidungen des Tages gewinnen. L. F.
Die Börner des Moses von Michelangelo
©in Beitrag zur Frage der richtigen Bibelübersetzung Zum Wochenabschnitt ki thisso (2. Buch Mose 30, llfs.)
Warum, hat Michelangelo seinem Moses auf dem Grabmal von Papst Julius II. in Rom Hörner gegeben? Dieses Meisterwerk der Plastik ist wohl das bekannteste Denkmal der Welt. Gregorovius nennt es in seiner ziemlich unbekannten Beschreibung der Grabdenkmäler der Päpste (Leipzig 1857, S. 128) „das Urbild ganz unnahbarer Erhabenheit". Zu beiden Seiten des Moses von Michelangelo stehen die Dantefchen Figuren des tätigen und beschaulichen Lebens, Lea und Rahel. Den Papst selbst, auf dem kleinen Sarkophag liegend dargestellt, bemerkt man kaum mehr. Gregorovius sagt: „Er schwindet zu einem unwesentlichen Ornament seines eigenen Denkmals." Alles überragt die großartige Gestalt des gehörnten Moses mit den Gesetzestafeln und mit dem lang herabwallenden Bart.
Das gleiche Bild des Gesetzgebers mit dem gehörnten Antlitz stand Marin Luther in seiner Predigt von 1540 vor Augen. „Wenn Mose seine Hörner aufsetzet und dich damit stößt, das ist durchs Gesetz, das dir deine Sünde offenbart und dich also in groß Erschrecken und Zagen führet."
Die Hörner des Moses waren Michelangelo und Luther durch die traditionelle lateinische Bibelübersetzung gegeben. Im 2. Buch Moses, Kapitel 34, Vers 29, heißt es in wörtlicher deutscher Übersetzung (nach Buber-Rosenzweig):
„Es geschah,
als Mosche vom Berge Sinai niederstieg,
1 Jakob Klatzkin, „Probleme des modernen Judentums". 208 Seiten. Verlag Lambert Schneider, Berlin-Dahlem. 1930.
die zwei Tafeln der Vergegenwärtigung in Mosches Hand, als er vom Berg niederstieg.
Mosche wußte aber nicht, daß von seinem Reden mit ihm die Haut seines Gesichtes strahlte, da schaute Aharon und alle Söhne Jisraels Mosche: die Haut seines Gesichtes strahlte."
Luther übersetzt nach der Vulgata: ... et ignorabat quod comuta esset facies sua ex consortio sermonis Domini.
Dasselbe hebräische Zeitwort, das „strahlen" bedeutet pp kann nämlich auch soviel bedeuten wie „Hörner haben". Und in diesem Sinne ist es von dem Kirchenvater Hieronymus nach dem Vorgang des alten jüdischen Übersetzers Aquila in die lateinische Bibel, die sogenannte Vulgata, übernommen. Auch Raschi leitete den Ausdruck pp von „Hörner" ab: das Wort sei gewählt, weil sich das strahlende Licht, hornsörmig, wir sagen „kegelförmig", verbreitet. Die Vulgata wurde für das christliche Mittelalter maßgebend. So wurde aus dem „strahlenden" Antlitz des Moses das „gehörnte" Antlitz des Moses, auch bei Michelangelo und Luther.
Ein ähnlicher Sachverhalt ist im kleinen Prophetenbuch Jona zu beobachten; der hebräische Wortlaut dieser 4 kurzen Kapitel, die die Haftara nach der Toravorlesung zu Mincha am Jom-Kippur bilden, ist von der größten Eindringlichkeit. Durch ein mißverstandenes hebräisches Wort, das Hieronymus falsch übersetzte, wurde die Kürbislaube (das Laubgewölbe des Q u i q a j o n, der in Palästina häufigen Rizinusstaude) des Propheten Jonas, also der prachtvolle Wunderbaum, der sich als Laube nach der Bibel (Jonas 4, 6) über dem Propheten wölbte, in der mittelalterlichen bildenden Kunst