rniittfilungen des Jüdischen Lehrerneeeins für Sspem

Schriftleitung: Max Adler, München

1930 München, 15. Mai Nr. 5

vie kanlorenfrage

eine §rage des deutschen Judentums

Von Abraham Müller

Es ist kein Zweifel: In der deutschen Kantorenwelt herrscht eine tiefgreifende Verstimmung über die in den letzten fahren geübte Zurücksetzung der Lehrer-Kantoren zugunsten nicht ordnungsgemäß vorgebildeter Nur-Kantoren. Diese Verbitterung bildete die Grund­stimmung bei der Tagung des Allgemeinen Deutschen Kantorenver­bandes am 31. Dezember 1929 in Berlin, wobei der außerordentlich verdiente erste Vorsitzende, I. B. Levy eine Zierde des deutschen Judentums und mit ihm Männer, die teils schon seit Jahrzehnten ihre wertvolle Kraft nicht nur in den Dienst des Vereins, sondern des gesamten Judentums gestellt haben, aus dem Vorstände ausschie­den. Nicht deutlicher kann der Beweggrund zu diesem Schritt um­schrieben werden als in der Äußerung Levys:Unsere Bildungs­politik hat bei den Gemeinden Fiasko gemacht, so sehe ich für mein Streben keine Notwendigkeit mehr."

Schon vor 25 Jahren hat der Allgemeine Deutsche Kantorenver­band die Forderung aufgestellt,der jüdische Kantor in Deutschland soll grundsätzlich auch Lehrer fein". Nicht nur praktische Gründe haben diesen Beschluß veranlaßt, da Kleingemeinden sich nicht meh­rere Beamten leisten können und auf die Arsonalunion für die ver­schiedenen Ämter angewiesen sind, sondern auch ideelle. Man wünschte vom Kantor eine gewisse Niveaustellung in der Gemeinde. Der aus dem Lehrerseminar vorgebildete Lehrer-Kantor besaß die Voraus­setzung der Allgemeinbildung, die ihn befähigen sollte, am geistigen Leben der Gemeinde möglichst umfassend teilzunehmen und in in­nerer Verbindung mit ihr zu stehen, sowohl mit der Jugend als auch mit dem Alter. Die für den Kantor unerläßlichen gediegenen hebrä­ischen Kenntnisse sind Gegenstand des Seminarunterrichts, denn nur der tüchtige Grammatiker kann korrekt aus der Thora vorlesen und die Gebete sinngemäß interpretieren. Der Vorsitzende konnte bei jener Tagung darauf Hinweisen, daß ideelle, wissenschaftliche Arbeit für die Kantorenzeitung, von einer Ausnahme abgesehen, nur von Lehrer-Kantoren geleistet worden ist:Wo ist mit Ausnahme des Redakteurs ein einziger Nur-Kantor, der auch nur einen einzigen Baustein zu der kantoralen Wissenschaft, die wir pflegten, beige­tragen hat? Wo überhaupt sind die kantoralwissenschastlichen und kantoral-musikalischen Leistungen der Herren Nur-Kantoren Deutsch­lands?"

Man mißverstehe uns nicht. Nicht den ostjüdischen Kantor lehnen wir ab das wäre durchaus unjüdisch, sondern nur diejenigen, gleichgültig, wo auch ihre Wiege stand, die den hohen Anforderun­gen, die wir selbst an das heilige Amt des Scheliach Zibbur stellen, nicht genügen. Es gab und gibt genug ostjüdische Kantoren, denen die Synthese ostjüdischer Empfindungsweise und westlicher Kultur wunderbar geglückt ist. Es waren meist solche, die bei uns ein Lehrer­seminar oder andere Bildungsanstalten absolvierten und sich deut­sches Chasonns zu eigen machten. Gegen diese brauchten wir auch unser Chasonns nicht vor Verunstaltung zu schützen; sie wußten genau, was Tradition auch auf diesem Gebiete bedeutet. Die Prü­fungsordnung, die der Allgemeine Deutsche Kantorenverband dem Preußischen Landesverband vorlegte, fordert außer der kantoralen Eignung entweder eine abgefchoffene Allgemeinbildung oder eine um­fassende jüdisch-wissenschaftliche Vorbildung.

Doch was nützen alle von uns verlangten Qualifikationsnachweise, was soll das Streben nach Errichtung von Kantorenschulen, wenn sich die Großgemeinden nicht darum kümmern und der unter Auf­wand großer Mühe und materieller Opfer ausgebildete Lehrer-Kan­tor erleben muß, daß der unter Umständen vollständig ungeschulte Nur-Kantor ihm in jeder Hinsicht vorgezogen wird. Wenn nicht ord­nungsgemäß vorgebildete Lehrer für kleine Landgemeinden qualifi­ziert werden, so könnte man dieser Maßnahme in Anbetracht der geistigen Not, die oft dort herrscht, vielleicht noch eine gewisse Be­rechtigung zuerkennen, obgleich wir Lehrer uns grundsätzlich nicht mit dieser Art von Prüfungen einverstanden erklären können, und zwar nicht allein aus Standesrücksichten, sondern weil wir uns sagen, daß für 'das letzte Schulkind auf dem Lande der gediegenste Reli­gionsunterricht gerade gut genug ist, und dieser nur vom seminari­

stisch gebildeten Lehrer erteilt werden kann. Großgemeinden haben bis auf verschwindende Ausnahmen nur seminaristisch gebildete Leh­rer angestellt. Kei der Besetzung von Kantorenstellen sind es aber gerade die Großgemeinden, die mit der billigen Begründung, es gäbe keine bedeutenden Lehrer-Kantoren mehrAuch-Kantoren" enga­gieren, die meist nicht mehr mitbringen als eine schöne Stimme. Und was hat es mit der schönen Stimme für eine Bewandtnis? Gibt es bei uns wirklich nicht solche Stimmen? Im Ernste wird dies wohl niemand behaupten wollen. Wir haben Lehrer-Kantoren mit präch­tigen Stimmen, die Künstler ihres Faches sind. Aber diese werden oft in ihrem kantoralen Wirken erdrückt, indem man ihre Kräfte nach der anderen Seite, d. h. durch übergroße Belastung mit Unterrichts­stunden, so sehr beansprucht, daß eine freie Entfaltung der gesang­lichen Fähigkeiten mindestens sehr gehemmt, wenn nicht ganz un­möglich gemacht wird. Es sind aber nicht bloß liberale Gemeinden, die nur eine schöne Stimme wünschen, auch orthodoxe Synagogen übersehen es häufig, daß eine schöne Stimme nur eine Voraus­setzung ist, die der Schulchan Aruch an die Eignung zum Scholiach Zibbur knüpft.

Das Verlangen nach einembilligen Konzert", wer wollte es leug­nen, daß viele nur deshalb die Synagoge aussuchen, die Zahl der eigentlichen Beter ist ja gering geht so weit, daß man Schiff­brüchigen aus anderen Berufen die Arme öffnet und ihnen, soweit als möglich, entgegenkommt. Die Reklame, die bei dem Auftreten eines früheren Opernsängers in einem Berliner Synagogenkonzert gemacht wurde, ist bekannt. Das Engagement scheint aber bei den horrenden gehaltlichen Ansprüchen des Sängers bis jetzt doch nicht zustande gekommen zu sein, wobei nicht zuletzt auf die bei den Kan­toren naturgemäß entstehende Mißstimmung Rücksicht genommen wurde, die eine Bevorzugung einesNur-Sängers" Hervorrufen müh^e. Die Presse brachte dies wiederholt zum Ausdruck. Es muß zu Ehren der Berliner Gemeinde gesagt werden, daß sie Bevor­zugungen bzw. Zurücksetzungen möglichst zu vermeiden sucht. Die Kantoren gleicher Kategorie werden auch in gleicher Höhe bezahlt. Die Nur-Kantoren beziehen keine größeren Gehälter als die Lehrer- Kantoren. Auch in der Art der Beschäftigung besteht dort ein ge­wisser gerechter Ausgleich, indem eine Überlastung der Lehrer-Kan­toren durch ein zu großes Pflichtstundenmaß vermieden wird, so daß sie auch als Kantoren voll und ganz auf dem Posten stehen können und auch nach dieser Richtung nicht im Nachteil sind gegenüber den Nur-Kantoren.

Mit scharfen Worten geißelt der Vorstand des Allgemeinen Deut­schen Kantorenverbandes die auf die Dauer unhaltbaren Zustände in den Goßgemeinden:Hauptsache ist mir der Beweis, daß der der­zeitige Ausschuß des Kantorenverbandes nicht daran denkt, gegen den Ausländer als solchen zu kämpfen. Wogegen wir uns aber mit aller Macht gestemmt haben, das ist die Verwilderung des deutschen Kantorenstandes, das ist die Anstellung aller möglichen, auf anderen Gebieten gescheiterten Existenzen als Kantoren, ja als Oberkantoren in den Großgemeinden unseres Vaterlandes. Das ist betrüblich, und wenn die Gemeindevorstände nicht einsehen wollen, daß sie hier auf einem falschen, ja aus einem geradezu gefährlichen Wege sich befinden, dann ist chnen und dem jüdischen Gottesdienst nicht zu helfen dann geht das Kantorat in Deutschland seinem Untergang entgegen. Denn wenn erstensinternationale Kapazitäten" bevor­zugt und zweitens junge Kantoren in Deutschland nicht mehr heran­gebildet werden und drittens im Auslande, ganz besonders in Ruß­land, das Judentum und jüdische Kultur und jüdischer Kultus ver­nichtet werden, dann möchte ich wissen, woher man Kantoren für unsere Gemeinden nehmen will. Welcher deutsche junge Mann soll ferner unter solchen Auspizien sich dem Kantorat widmen, denn wo sind die Stellen, an denen er sich betätigen könnte?"

Der derzeitige erste Vorsitzende des Kantorenverbandes, Kornitzer, ein Nur-Kantor, der sich bemüht, in versöhnlicher Weise die hetero­genen Elemente innerhalb der Kantorenschaft unter einen Hut zu bringen, muß sich in seinem neuen Programm zu folgendem Be­kenntnis verstehen:Es darf mit Stolz ausgesprochen werden, daß das Bildungsniveau der deutschen Kantoren im Durchschnitt das der Kollegen in anderen Ländern weit überragt. Vielleicht war es einmal im Osten auf gleicher Höhe, als die Vorbeter gleichzeitig gediegene Kenner des hebräischen Schrifttums waren. Jedenfalls ist