ülachrichtenblatt der Israelitischen Kultusgemeinöen in München/Augsburg/Hamberg unö ües Verbanöes Hagerischer Israelitischer Gemeinüen
Israelitische Gemeinöezeitung
Erscheint am r. unö if. jeötn Monats. — Verlag: V. heller/ München, plinganserstrohc 6$, Kernruf 7366$ unö 73663, Postscheck München 39 87/ Hchristleitung: Sr. Luöwig Keuchlwanger, München, Grillparzerstrahe ZS
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VII. Jahrgang München, t. Marz ipp Kr. 5
Inhalt: Die Ursprünge des neuzeitlichen Judentums — Alte jüdische Kunstdenkmäler — Schwierigkeiten geordneter Zeitrechnung — Emil Bernhard-Cohn — Heinrich Eduard Jacob — Das neue jüdische Eemeindegesetz für Italien — Hygiene und Judentum — Aus der
Gemeinde München — Aus bayerischen Gemeinden — Vereine — Bücherschau — Amtlicher Anzeiger: Bekanntmachungen der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg — Haushaltplan für das Kalenderjahr 1931 — Personalia.
vie Ursprünge des neuzeitlichen Judentums
Von Ha
Aufklärung und chassidismus
Das mittelalterliche Judentum findet seinen Abschluß in der Bewegung um Savvmai Hewi. Hier saßt es in einem großen Aufschwünge noch einmal aue seine Kräsle zusammen, um sich endgulag zu verzeyren.
Um oie Atitte des sechzehnten Jahrhunderts hatte Joseph Caro, der letzte große Kodisikaror des ravblnischen Judentums und die größte Aurorimt feit Maimonides, von mystischen Visionen sein Lieben hindurch begleitet, in Sased sein bedeutsames Werk „Schulchan Aruch" verfaßt, damit es in der herannayenden Messiaszeit ein Zentrum der Lrehre und ein Führer für Israel sei; das Haupt der Kabbalisten jener Zeit, Isaak Lurie, der in Palästina und Ägypten- lehrre, glaubte noch selbst den Anbruch der messianischen Zeit zu erleben. Um Sabbatai Zewi, der im Jahre 1648 , das von kabbalistischen Quellen als Jahr des Erscheinens des Messias vorausbe- stimmt war, sich in Smyrna als Messias und Erlöser des jüdischen Volkes verkündete, entbrannte in dem gesamten Judentum jener Tage eine alle Kreise umfassende Bewegung voll Glaubens in die nahe bevorstehende Erlösung, wie kein „Messias" sie vorher zu entfachen gewußt hat. Der Messianismus Sabbatlai Zewis hatte sich wie jede Sehnsucht nach baldiger politischer Erlösung als ein Frevel erwiesen, dem nur Enttäuschung und Verfall folgen konnten; künftige Ausschwungszeiten des Judentums, steigende Flut jüdischer Lebensbejahung konnten sich als Zeiten der Sammlung und Bereitung erkennen, nicht als endzeitliche Erfüllung und Befreiung. Die Geschichte des Judentums ist ein nicht abgeschlossener Prozeß, den kein Enthusiasmus zum Abschlüsse bringen kann. Der allzu gespannte Bogen der Erwartung zerbricht, und der Pfeil, der in Kraft das nächste Ziel hätte erreichen können, sinkt schwächlich zu Boden.
Aber in dem mittelalterlich erstarrten und hoffnungslos zurückgebliebenen Judentum, das nach dem Scheitern des Sabbatainismus sich immer mehr in sich abschloß, waren Kräfte wirksam, die die bisherige Hülle sprengen und eine neue Zeit herbeiführen sollten. Diese Revolution, der Anhub der Neuzeit für das Judentum, sollte eine viele Jahrzehnte dauernde und heute noch nicht abgeschlossene Zeit von Wandlungen und inneren Wirrnissen herbeiführen, ähnlich wie Renaissance und Aufklärung in Europa. Die festen Bindungen der Gemeinschaft lockerten sich und zerbrachen, der in sich geschlossene harmonische Kosmos, worin jeder einzelne Punkt in steter Wechselwirkung mit allen anderen und in unlösbarer Beziehung zum Abso
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luten stand, öffnete sich nach allen Seiten ins Unendliche und Unbekannte, aus dem die Ströme des Chaos einbrachen; das Individuum wurde frei und gewann mit dem Verlust seiner Sicherheit neue Würde und Kühnheit; eine Zeit restlosen Suchens hob an, der Wanderschaft nach fernen Morgenröten, und die Dämmerung des von Zweifel und Sehnsucht Getriebenen gewann höhern Wen als der krare Tag des ruhig Besitzenden. Das seine Gestalt wandelnde Judentum durchläuft von da an viele Wege, von denen manche absonderliche Irrwege sind; aber seine Substanz, sein inneres Wesen bleibt unverändert und ringt sich immer wieder durch; nun ist es wieder eingereiht in die großen Heerstraßen der Menschheit, mit ihr suchend, sich verlierend und sich findend, in mancherlei Weise im Gefolge allgemeiner Ideen, aber hier und dort auch als Vortrab der gemeinsam einem unbekannten Ziel entgegengehenden Völker.
Die Revolution im Judentum des achtzehnten Jahrhunderts, die sich erst im nachfolgenden vollenden sollte, vollzog sich in zwei aus den ersten Blick vollständig verschiedenen, ja entgegengesetzten Bewegungen, deren beider Träger die aschkenasische Judenheit in ihren miitel- und osteuropäischen Heimatländern war, die von nun an allein der geistig führende Teil des Volkes wurde. Die eine dieser Bewegungen stand noch völlig unter der Herrschaft des religiösen Prinzips. Die andere Bewegung war aus dem Einfluß der Aufklärung hervorgegangen und bedeutete den Beginn der Verweltlichung des Judentums. Die eine dieser Bewegungen, der Chassidismus, eine mystisch-religiöse Sekte, entstand um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts im südöstlichen Teil Polens, die andere Bewegung, die Aufklärung oder Haskala, die später zur Assimilation und zum Reformjudentum führte, nahm ihren Ursprung in den großen Städten, vor allem in Berlin. Beide Bewegungen aber waren ein Protest gegen die erstarrte Form jüdischen Lebens, die in das achtzehnte Jahrhrmdert sich fortgesetzt hatte; griff die Aufklärung diese Form mit der Kritik des Rationalismus und der Schärfe der Satire an, so suchte der Chassidismus sie durch das Feuer mystischer Glut zu läutern und in der Einfachheit des reinen Herzens zu schmelzen. Beide Bewegungen richteten sich gegen die bisherige Form der sozialen Ordnung, die ihren Mittelpunkt in der Kleinstadt fand mit ihrem herrschenden Stande der Gemeindegewaltigen, die die obere Schicht des kleinen Bürgertums darstellten und deren Familienbeziehungen das Traggerüste der Gesellschaft bildeten. Der Chassidismus war ursprünglich der Protest des Dorfes- und der armen Bevölkerung, unter Schankwirten und Holzfällern entstanden;