WttkiluMn des lüdischen Lehrerverelns kür Wern
Schriftleitung: Max Adler, München
1931 München, 15. Juni Nr. 7
erziebungsgrunLsätze und lugenderziehung in vibei und Talmud
Von M. Sonn, Hauptlehrer (Buttenwiesen)
I.
A. Der Talmud, die große Nationalbibliothek des jüdischen Volkes, ist eine Fundgrube der Weisheit und Erkennmis. Die weitverzweigten Äste der Thora, des Talmuds ragen in sämtliche Wiffengebiete hinein und wahr ist das Wort in den „Sprüchen der Väter": “jsm “2 jSH m m „D re he sie und wende sie; denn in ihr
ist alles enth alten!"
Unsere Talmudweisen, jene großen Männer, ausgezeichnet durch Geistesgröße, Gesiinnungsadel und reine Menschenliebe, standen in allen Wissenschaften nicht nur auf der Höhe der Zeit, ja sie überragten damals alle Welt in kultureller und geistiger Hinsicht um ein bedeutendes. Aus zahlreichen Stellen des Talmud ersehen wir mit Verwunderung die Vertrautheit dieser Männer in allen Wissensgebieten, in Mathematik, Astronomie, Medizin, Zoolgoie, Botanik, Naturkunde und Rechtswissen- schastcn. nro:r6 mxnsns mxn*or 2 .V nisipr. „Astronomie und Geometrie sind Peripherien zur Weisheit", lehrt die Mischnah und staunend hören wir, wie Raw Samuel von sich sagte: „Die Himmels-, bahnen sind mir so bekannt, wie die Straßen meines Heimatortes Nehardca." — Mit höchster Bewunderung vernehmen wir von unseren Talmudlehrern die Regeln und Lehrsätze: „Alle Tiere, die Hör-, ner besitzen, haben gespaltene Klauen." „Alle Fische, die Schuppen tragen, haben auch Flossen." „Alle Tierarten des trockenen Landes befinden sich auch im Meere mit Ausnahme vom Wiesel." Aussprüche, die von überragender Naturkenntnis Zeugnis geben!
Und wie auf diesen Gebieten, so ist das Riesenwerk des Talmud, an dem ein volles Jahrtausend gearbeitet, so sind die hl. Schriften Fundgruben pädagogischer Weisheit, Quellen erziehlicher Belehrung. Wohl finden wir nirgends die Erziehungsgrundsätze in systematischem Zusammenhang dargestellt, nirgends eine wissenschaftliche Erziehungslehre zusammengefaßt; es kommen nur ver- einzelteAussprüche, zerstreute Sätze, Schriftdeutungen, Erzählungen, pädagogische Goldkörner gelegentlich vor, welche hohe erziehliche Bedeutung haben und erziehlich verwertet werden können.
II.
Nach dem biblisch-talmudischen Crziehungsideal ist das Streben nach Gottebenbildlichkeit durch sittliche Vervollkommnung der höchste Zweck des menschlichen Lebens. Vnn D’tinnp „H eilig sollt ihr sein; denn heilig bin ich der Ewige, euer Gott." — „Heilig" bezeichnet die höchste Stufe der sittlichen Vollendung. Gott ist das Vorbild alles Wahren, Guten, Edlen und Schönen; er ist das Urbild aller Sittlichkeit und Tugend. Diese hehren Tugenden und Eigenschaften nachzuahmen, in Gottes Wegen zu wandeln, ist Inhalt und Ziel des menschlichen Daseins; das erhebt uns zur Gottesähnlichkeit. „Wie Gott gnädig und barmherzig, sei auch du gnädig und barmherzig." p2nn 121 XTH 7pVx 'n nx „Den Ewigen, euren Gott, sollt ihr ehrfürchten und ihm euch anschließen!" „Wie ist es möglich sich Gott anzuschließen?" fragt man im Talmud. Das heißt: „Lasse seinen Wandel, sein Tun und Wirken vorbildlich für Dich sein. Wie Gott die Nackten bekleidet, die Hungernden speist, die Kranken besucht, die Trauernden tröstet, so handle auch du." Fürchte Gott! iv?1v nx n"2"p"n X")2 X^> lNT’tP '12 xVx „Gott hat das Weltgebäude fo- wunderbar geschaffen, um dem Menschen Ehrfurcht einzuflößen." „Und nun Israel, was fordert der Ewige, dein Gott von dir? Nichts, als daß du ihn ehrfürchtest, ihn liebest und ihm dienest mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele!" Gotteserkentnis und Gottesehrfurcht ist das höchste Erzieh ungs- und Lebensziel. „Fürchte Gott und beobachte seine Gebote; denn das ist der Zweck des Menschenlebens!" ruft der weise König Salomo uns zu. So bildet die Religion die breite, feste Grundlage des biblisch- talmudischen Crziehungswesens. Der Jude ist Gottesdiener. Klar und deutlich sagt dies die Heilige Schrift: „Ich habe ihn ersehen, auf daß er Mnn 2 X) seinen Kindern und sei
nem Hause gebiete, däß sie beobachten den Weg des Ewigen, Tugend und Gerechtigkeit zu üben." — Alle Lebensbeziehungen und Lebensäußerungen, alle Unternehmungen und Creignisie, alle Tage und Zeiten, alle Schicksale und Erlebnisse des Menschen von der Wiege bis zum Grabe, werden von dieser Gottesidee getragen. Alles, Speise und Trank, Heiterkeit und Tränen, Geschäft und Vergnügen, Freude und Genuß haben dem höheren Lebenszwecke zu dienen. Jede Handlung ist Pflichterfüllung; das ganze Leben ein Gottesdienst! Aus Thora und Talmud leuchtet die Forderung hervor: „Jedes Haus sei ein Heiligtum, jeder Jude ein Priester, jeder Tisch ein Altar, jedes Mahl eine Opfcrspeise! Die gesamte Lebensführung soll eine ununterbrochene Kette gottesdienstlicher Handlungen sein.
Nach diesen Ausführungen könnte man glauben, daß das biblisch- talmudische Erziehungsprinzip jeden Zusammenhang mit der Wirklichkeit, mit der irdischen Bestimmung des Menschen verloren habe. Jedoch das ist nicht der Fall. Auch der Talmud kennt und schätzt den Wert der irdischen und realen Güter Er stellt daher den Lehrsatz auf: -3,
plX "p” Cy n"n „S chön i st das Thorastudium verbun: den mit Berufstätigkeit!"
Die Erziehung soll den Menschen zum nützlichen Glied der menschlichen Gesellschaft machen; sie soll ihm die Grundlage zur Erhaltung des Lebens und zur Erfüllung bürgerlicher und sozialer Pflichten bieten. Deshalb gebietet der Talmud: Ui2ix 112 ^x n* 27 P snx 2”n
„D e r Me nsch ist verpflichtet, dem Sohne ein Handwerk, einen Beruf zu lehren." Die HeiliZe Schrift will die Jugend durch ihren erhabenen Geist vor jeder Anfechtung, vor allen Gefahren der Welt schützen, will durch anschauliche, Gemüt und Gesinnung ergreifende Lebensbilder sittlich-religiöse Charaktere schaffen, aber nicht durch Weltflucht und Einseitigkeit, sondern durch harmonische Entwicklung aller physischen und psychischen, aller körperlichen und geistigen Kräfte. „Die Wege der Tora sind Wege der Anmut." Weder die weltverneinende Askese, noch die zügellose, sinnliche Freude sind das Ideal der Erziehung, sondern maßvolle Lebensfreude und mäßiger Genuß, Welt- und Lebensfreudigkeit in dankbarem Aufblick zu Gott. 'n "Ityx 2von 722 nnsan „Freue dich
des Guten, das dir der Ewige gegeben;" Echte, schlichte Herzensfreude ist des Juden schönster Gottesdienst. Menschliches mit Göttlichem zu verbinden. Irdisches mit Ewigem harmonisch zu vermählen, das ist das hohe Ziel der biblisch-talmudischen Erziehung.
III.
Der Beruf des Erziehers erfordert aber nicht nur Kenntnis des Erziehungszieles, sondern auch tiefes psychologisches Verständnis der inneren Natur jedes einzelnen Kindes. 12T7 ’S by "lin „Leite
den Knaben nach seinen: inneren Wesen, nach seiner eigentümlichen Veranlagung." Also, behandle jedes Kind nach seiner Individualität, nach seiner Eigenart, nach seinen Fähigkeiten! Denn so mannigfaltig die Menschen nach ihrem Äußeren, so verschieden auch die individuellen Anlagen. Ein Kind ist aufgeweckt und begabt, das andere scheu und zurückhaltend, eines geistig rege und sprachgewandt, das andere gleichgültig und langsam, gedankenarm und unbeholfen. Darum sagt der Midrasch: „Gott offenbarte sich am Berge Sinai den Kindern Israel nach ihrer Fassungskraft, den Jungen und Alten nach ihrer Fähigkeit."
Der Talmud berücksichtigt in seinen Erziehungsgrundsätzen auch die Verschiedenheit der Geschlechter. Denn die größten wesentlichen Verschiedenheiten zeigen sich im Charakter des männlichen und weiblichen Geschlechtes, und auch darauf hat der Erzieher sein Augenmerk zu richten und ganz besonders zu berücksichtigen. Der Knabe ist mutig, standhaft, strenge, hart, willensstark; das Mädchen geduldig, sanftmütig, milde, fügsam; der Knabe ist verschlossen und oft rücksichtslos, das Mädchen sprachgewandter und meist gefühlvoller als dieser.
Auch dem trägt der Talmud Rechnung. Allerdings spricht er von der Frau nur als Gattin und Mutter und weist hiermit auf die natürliche Bestimmung des Weibes hin, weshalb auch die Mädchenerziehung von den Aufgaben bestimmt wird, die der Frau in der Zukunft harren.
xn"|2 '»nun "2 nvx ’>nniy2 „Die Taten der Mutter sind vorbildlich für die Tochter." Daraus ergibt sich.als