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Jüdisches Gemeindeblatt für den Verband der Kultusgemeinden in Bayern
Nr. 17
benserneuerung steht im Mittelpunkt unseres religiösen Neujahrsfestes, und er ist es, der ihm seine Größe gibt. Das Judentum ist eine Religion der Entwicklung und die Judenheit ist ein Volk der Entwicklung, ein altes, sich ewig erneuerndes Lebenselement. Wie hätten sie sich sonst durch die lange Zeit voller Kämpfe und Leiden erhalten können? Wenn eine Religion „Religion des Lebens" (Thorat chajim) sein will — und das ist die Bestimmung des Judentums von vornherein — dann muß sie sich, wie das Leben selbst, entwickeln, erweitern, vertiefen und erneuern. Und wenn ein Volk nicht zum Petrefäkt erstarren will, dann muß es neue Kräfte aus dem Leben saugen, organisch wachsen. Entwicklung aber bedeutet, wie bei allen Organismen, seinem inneren Lebensgesetz folgen, die natürliche Linie wahren, zur Höhe streben, aber auf eigenen Wegen, mit den andern und für die andern wirken, aber seine Eigenart, seine Lebensbedingungen nicht verleugnen.
Das hat das Judentum, hat die Judenheit, von wenigen unerfreulichen Epochen abgesehen, immer befolgt. Das beweist die Geistesgeschichte des jüdischen Volkes, das beweist noch stärker seine Existenz in der Welt. Das Judentum des Talmuds ist, äußerlich gesehen, nicht das Judentum der Bibel und das Judentum der Rabbinen nicht das Judentum des Talmuds. Und doch bilden sie eine tiefere Einheit, eine Verbundenheit in Geist und Wesen. Wo eine religiöse Richtung diese Linie verloren hat, verfiel sie dem Schicksal der Erstarrung und verlor sich mit der Zeit ganz. Die Sadduzäer im Altertum und die Karäer in späterer Zeit sind lebendige Beweise dafür. Und nach dem anderen Pol hin sind die weltfremden Essäer im Altertum und die Kabbalisten in späteren Jahrhunderten Argumente des Lebens, die stärker sind als alle Theorien. Weder Buchstabentreue auf Kosten des Geistes, noch ein Verlassen des Rahmens, sondern ein Weiterschreiten im alten Geiste, — das ist die Struktur des Judentums. Und wie bei einer gesunden Architektur Fassade und Inhalt zueinander passen müssen, so müssen auch die Formen religiöser Entfaltung harmonisch mit dem Geiste zu einer Einheit werden. Nicht der kalte Nationalismus, sondern die seelische Wärme ist die wahre Trägerin des Judentums, sein eigentliches Lebenselement.
Und da bei uns Juden Volk und Glauben eine unzertrennliche Einheit bilden, sehen wir dasselbe Bild im jüdischen Leben immer wieder. Die Juden gingen in alle Welt, blieben aber Juden. Sie sprachen alle Sprachen, aber ihre Seelensprache blieb jüdisch. Sie bereicherten sich an allen Geistesschätzen und bereicherten die andern, behielten aber ihre Eigenart. Wo sie von dieser tiefruhenden und daher nicht immer sichtbaren Linie abwichen, da entstand etwas Ungesundes, ohne Kraft und Dauer. Und aus allen Irrtümern fand Israel immer wieder den Weg zu seinem Urwesen zurück. Wo es seine Lebenslehre vergessen hat, mahnte das Schicksal sanft oder herb zur Besinnung. Das ist der Sinn der Lebenserneuerung in der jüdischen Geschichte.
Brauchen wir nicht heute mehr als jemals die Lebenserneuerung? Wir sind herausgerissen worden aus alten Verhältnissen und wollen und müssen doch leben. Das ist nur möglich, wenn wir uns auf den Boden der Tatsachen stellen, ohne unser Wesen zu verleugnen, d.h. wenn wir als bewußte Juden und moderne Menschen innerhalb des Möglichen ein würdiges Leben führen, wenn wir wie unsere Väter eine Weite in der Enge suchen. Wir sind aus den Träumen erwacht. Das alte Leben liegt in Trümmern hinter uns, wir wollen die Lebensrealitäten anerkennen, mögen sie noch so hart sein, wir wollen die Möglichkeit einer Fortentwicklung auf neuen Pfaden suchen. Wir suchen das neue Leben mit dem Herzen, mit der Vernunft, und wir werden es finden, alt im Geiste, neu in der Form. Das können wir nur in der Gemeinschaft und mit der Gemeinschaft tun. Und unsere Gemeinschaft ist nicht nur eine Gemeinschaft des Blutes, sondern auch des. Glaubens, des Denkens.
MAGISTER KIRSCH
der gute Likör, Magister München VII
StadtfiHale Hochbrückenstr. 14, Ecke Herrnstr.
Wir Juden können ohne Kultur nicht leben, wir bedürfen des jüdischen und allgemeinen Kulturgutes nicht als Luxus, sondern zu unserer Erhaltung, lernen und lehren ist für uns der Inbegriff des geschichtlichen Zusammenhanges und des Daseinszweckes. Wir haben gar zu lange von Nachahmungen gelebt und heute ist wohl die Sehnsucht nach einer eigenen Kultur vorhanden. Aber mit der Sehnsucht allein ist es nicht getan. Gestehen wir ehrlich: von einer echten jüdischen Kultur, von einer Kultur, die den modernen jüdischen Menschen ganz ausfüllt, besitzen wir nur Anfänge, Bruchstücke. Bausteine sind reichlich vorhanden, aber noch fehlt der geniale Architekt, der Großes daraus schaffen könnte. Die Verschmelzung des Jüdischen mit dem Modernen oder richtiger die Verwandlung alles Europäischen ins Jüdische ist ein Prozeß, der in Westeuropa nur langsam vor sich geht und nicht frei von Unterbrechungen ist. Und auch in Palästina ist nicht alles jüdisch, weil es hebräisch ausgedrückt wird. Auch da fehlt noch der lebendige Strom, der aus der jüdischen Seele fließt. Noch ist in der jüdischen Welt Palästina auf Europa und Europa auf Palästina eingestellt. Alle Kräfte kulturell und moralisch zu vereinigen, daß sie einander befruchten, ist eine Aufgabe, die unser harrt.
Und noch mehr vielleicht gebricht es uns auf religiösem Gebiet an Neuschöpfungen, die wir als Lebenserneuerungen ansprechen dürften. Die religiöse Genialität war jahrhundertelang unser eigentliches schöpferisches Gebiet, unser Stolz und unsere Größe. Von den Propheten bis zum Chassidismus zieht sich eine lange Kette herrlicher Blüten, die das religiöse Gebiet durchglühen und das ganze Volk beglücken. Wie arm aber waren wir in den letzten Jahrzehnten gerade auf diesem Felde, und wie bitter not tut es hier, eine Lebenserneuerung zu schaffen! Die größte Gefahr ist die Kluft zwischen Leben und Glauben und Leopold Zunz hat gewiß recht: ,jNicht der Glaube, sondern das Leben bedarf einer Reform."
Sprechen wir nicht: „Wir haben heute andere Sorgen." Die jüdische Seele ist heute noch mehr gefährdet als die äußere Existenz. Es gilt, ihr Nahrung und Sicherheit zu geben. Wir Juden verdanken den Zeiten der Not die größten geistigen Errungenschaften. Wenn der synagogale Dichter singt: „Und nichts ist uns geblieben als diese Thora", so trifft er die Wahrheit. Thora bedeutet, tiefer erfaßt: Kultur, Ethik, Lebensquell im höheren Sinne. Auch uns muß die Thora im weiteren Sinne am höchsten stehen, mit unserem Wesen verschmelzen, mit dem Modernen zur tiefsten Harmonie werden.
Rosch-haschanah ist der „Tag des Gedenkens". Gedenken aber setzt ein Denken voraus, jede Versenkung in die Vergangenheit muß der Schlüssel zur Zukunft sein, jede Rückschau muß den Weg ins neue Leben zeigen. Wo stehen wir? Wohin wollen wir? Diese Fragen müssen uns stets lebendig sein. Wir leben in ernster Zeit, aber wir leben, weil wir nach göttlicher Bestimmung ein Ewigkeitselement sind. Die Not lehrt nicht nur beten, sondern auch denken, vergleichen, einen Ausweg suchen. Wir wollen uns und unsere Gesamtheit erhalten, erhalten heißt aber nicht, den Augenblick retten, erhalten heißt noch weniger, das Äußere auf Kosten des Inneren retten, ohne Ausblick in eine bessere Zukunft gibt es keine lebenswerte Gegenwart, ohne seelisches Leben keine menschliche Existenz.
Wir sind erwacht zum Denken und Schauen. Wir wollen Juden, ganze, überzeugte Juden sein, — nicht, weil wir müssen, sondern weil wir wollen, aus Erkenntnis und nicht aus Zwang. Wir wollen nicht damit Scheidewände errichten, sondern den Weg gehen, den Vorsehung und Geschichte vorgezeichnet haben. Wir wollen dem Worte Jude einen neuen Klang, einen reichen Inhalt geben, wollen der Welt zeigen, daß der Jude auch in schwerer Zeit groß und würdig sein kann. Jüdische Brüder sind wir innerhalb des großen Kreises der Menschheit, — das ist unsere Bestimmung.
Wenn wir an diesem Tage „Gedenke unser zum Leben!" beten, so denken wir nicht nur an unser Leben, sondern an unsere ganze schwer leidende Gemeinschaft, und wir denken nicht an ein Vegetieren, sondern an ein Leben voll innerer Würde, Menschlichkeit und Gerechtigkeit.
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