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Unsere Tribüne
Nr. 2
vorhanden sein wird, die in der Lage sein soll, idas Land zu verwalten und es zu verteidigen. {Wenn also die Juden in Palästina wieder ein vollwertiges Volk werden wollen, müssen sie alle Kräfte anspannen, um große Einwanderungsmöglichkeiten m Lande zu schaffen.
Der Schlüssel zur jüdischen Heimstätte in Palästina ist die Eroberung des Bodens. Der Nationalfonds besitzt ja zum Glücke bereits mehr als 20 Prozent des Bodens. Wenn ich aber an die Preise denke, die die Juden in Palästina für den Boden zahlen müssen, erfaßt mich ein Entsetzen. Unglücklicherweise herrscht in Palästina ein veraltetes System des» Grundbesitzes. Ungeheure Bodenflächen befinden sich im Besitze ihrer legalen Eigentümer, die unerhörte Preise für unkultivierten Boden verlangen. Wir mußten auf die Regierung Palästinas' einen Druck, ausüben, daß sie die Effendis zwinge, entweder den. Boden selber zu bestellen, oder ihn anderen zum Anbau zu überlassen.
,Was uns Engländer betrifft, werden wir dafür Sorge tragen müssen, daß die Einwanderung erleichtert werde. Wir werden uns 1 bemühen müssen, daß die Juden die Möglichkeit bekommen, sich im Osten des Mittelländischen Meeres zu entfalten. Und insbesondere werden wir dahin wirken, daß jene Bodenflächen Palästinas, die der Regierung gehören, in den Besitz derjenigen übergeben werden, die sie bestellen wollen, anstatt sie öde und unbebaut zu lassen, wie es jetzt der Fall ist.
Mein letztes Wort an euch Juden: Erfüllt ihr euere Pflicht Palästina gegenüber und unsere Partei, ob sie in oder außerhalb der Regierung, sein wird, wird euere Bewegung unterstützen und euere Bestrebungen nach Kräften fördern.
Die Sanierung der Wiener jüdischen Gemeinde.
Die Möglichkeiten erneuter [Tätigkeit. ' I.
Es muß zunächst festgestellt werden, daß unsere Vertreter in die Wiener jüdische Gemeinde eingezogen sind, nicht bloß um Kritik zu üben und die volksfeindlichen Vertreter zu demaskieren, sondern, weil wir der Meinung waren und sind, daß diese Institution viel Ersprießliches für die arme und arbeitende jüdische Bevölkerung zu leisten berufen ist, daß sie zugefügtes Unrecht gutmachen und manche Not lindern könnte.
Wir leben in einer Stadt, deren Verwaltung, trotz wirtschaftlicher Not und steter Krisen, Hervorragendes auf dem Gebiete sozialer Tätigkeit leistet, und das verpflichtet auch' uns zu den größten Anstrengungen in dieser Minsicht, wenn wir nicht die Existenzberechtigung der jüdischen Gemeinde verwirken sollen. Wir Juden pflegten mit Stolz von unserem entwickelten sozialen Gefühl, von unserer Hilfsbereitschaft zu sprechen, es sollte deshalb geradezu unsere Ambition sein, unsere Leistungen auf diesem Gebiete auf einer ansehnlichen. Höhe zu halten.
Die Mehrheitsiparteien des Kultusvorstandes weisen immer darauf hin, daß' sie die Anstalten der jüdischen Gemeinde erhalten und zahlreiche private Institutionen mit Subventionen bedenken. Das 1 ist gewiß eine Leistung, aber unserer Meinung nach eine viel zu bescheidene. Die Verteilung von Subventionen ist so selbstverständlich, daß man sich dessen eigentlich nicht rühmen sollte. Die Erhaltung der alten Anstalten aber, ohne neue, zeitgemäße zu errichten, ist gleichbedeutend mit einer Impotenz, auf die stolz zu sein gewiß keine Berechtigung vorhanden ist. • <
Die Not der armen jüdischen Bevölkerung dieser Stadt ist seit den Kriegsjahren bedeutend gewachsen, die Nachkriegszeit hat gerade uns Juden die Lösung sozialer Aufgaben auferlegt, die vor dem 1 Kriege in diesem Ausmaße nicht vorhanden waren. Die .alten Anstalten, die alten Mittel können zur Lösung dieser Aufgaben nicht ausreichen.
■Wenn wir früher erwähnt haben, daß die soziale [Tätigkeit der Gemeinde Wien auch uns bedeutende: Verpflichtungen auferlegen sollte, so wollen wir hier zunächst der Leistung der Wiener Stadtverwaltung auf dem Gebiete der Organisierung der privaten!' sozialen Tätigkeit gedenken. Die Gemeinde Wien hat es verstanden, dahin zu wirken, daß die privaten sozialen Vereine in einem einheitlichen Verband zu
sammengefaßt werden sollen. Dadurch konnte ihre Tätigkeit bedeutend vernünftiger und fruchtbarer gestaltet werden. Das mitkontrollierende Auge der Wiener Stadtverwaltung hatte noch besondere gesundende Wirkung. Die israelitische Kultusgemeinde soirte es sic^h zur Aufga'be machen, im ähnlichen Sinne innerhalb der jüdischen Wohltätigkeitsvereine zu wirken.
Es mag wohl sein, daß man bei uns auf größere Schwierigkeiten als bei den allgemeinen Wohltätigkeitsvereinen stoßen wird, aber die Vorteile, die der hilfsbedürftigen jüdischen Bevölkerung daraus erwachsen werden, sind so groß, daß sie alle Anstrengungen zweifellos aufwiegen werden.
Die Not der Nachkriegszeit, der steten Wirtschaftskrisen wirkten sich unter der jüdischen Bevölkerung dahin aus, daß bei uns ein als bei den Nichtjuden viel höherer Prozentsatz der wirtschaftlichen Existenzen zerstört wurde. Der Zwang zur Umschichtung oder Auswanderung erfaßt bei den Juden eine verhältnismäßig größere Zahl als bei den Nichtjuden. .Wir können hier nicht auf die Erklärung), dieser Erscheinung eingehen und müssen uns nur mit ihrer Feststellung begnügen. Hinzufügen wollen- wir nur noch, daß Wien aus vielen Gründen eine der wichtigsten Durchzugsstationen für die jüdischen Auswanderer Osteuropas ist.
Welche Aufgaben hätte hier die jüdische Gemeinde zu erfüllen?
Die jüdische Gemeinde müßte hier eingreifen, um sowohl die Umschichtung, als auch die Durch- und Auswanderung in geordnete Bahnen zu lenken.
Durch Schaffung von Auswandererheimen, Emigrationsbureaus, einer modernen Berufsberatung, eines Rechtschutzes, von Lehrwerkstätten usw. sollte die Abwicklung des Prozesses der Umgestaltung des wirtschaftlichen Charakters der zahlreichen zerstörten jüjdfschen Existenzen erleichtert und beschleunigt werden.
Es läßt sich nicht einmal' annähernd vorhersagen, welch ungeheure gesundende Wirkung diese"Tätigkeit auf die jüdische Bevölkerung dieser Stadt ausüben würde. Die Wiener jüdische Gemeinde würde ihren Ruf der Großzügigkeit wiedergewinnen und sieb verdiente Achtung und Anerkennung bei allen verschaffen.
[Wir wissen, was auf solche Vorschläge in den Regel erwidert wird: an Ratschlägen, an guten..Plänen mangelt es nicht, aber wie soll man die Mittel zur Bedeckung dieser großen Ausgaben beschaffen?
Darauf werden wir das nächste Mal einzugehen versuchen. ^ M. Singer.
Romain Rolland.
Eine der größten Persönlichkeiten unserer Zeit, Romain Rolland, ist sechzig Jahre alt geworden.
Rollands „Johann Christoph" ist zweifellos eine große künstlerische Tat, aber man könnte unschwer künstlerisch gleichwertige .Werke unseres Zeitalters finden. Das gilt gewiß auch von den andern, künstlerischen und wissenschaftlichen Schöpfungen Rollands. Und dennoch ist Rolland die große Persönlichkeit unserer Tage.
Unser Zeitalter besitzt wohl zahlreiche Talente und begabte Künstler, aber bettelarm sind wir an Persönlichkeiten, deren Denken und Schaffen von einer großen Idee völlig beseelt sein sollte. Unsere größten Künstler dienen zumeist der Kunst, aber selten der Menschheit. Rolland ist Apostel der Menschheit. Rolland gehört nicht zu jenen Schöpfern, die ihren künstlerischen Schatz in einer Herzkammer aufgespeichert haben, in den Sabbathtagen ihres künstlerischen Schaffens schöpfen sie aus dieser Herzkammer, in den .Wochentagen des 1 Lebens aber leben sie halt wie alle anderen Menschen. Jede Zeile, die Rolland geschrieben, jedes Wort, das er gesprochen, jede Tat, die er vollbracht, sind von grenzenloser. Menschenliebe beseelt.
Das ist der Zauber der Persönlichkeit Romaini Rollands.
Der Dreyfuß-Prozeß hat den Glauben Rollands an das französische Volk beinahe erschüttert, er protestierte mutig gegen diese Infamie der Reaktion und des Antisemitismus und nahm den Kampf für ein besseres, edleres Franzosentum auf.
Der große Geist Rollands blieb nicht im Nationalen stecken. Er trat gegen Unterdrückung auf, wo immer er sie wahrgenommen hat. Er ist ein begei
sterter und begeisternder Apostel des Friedens und der Völkerverbrüderung geworden. Da kam der Weltkrieg. Alle Hoffnungen auf ein besseres Menschentum versanken in ein Meer von Blut und Elend. Rolland gab seinen Kämpf nicht auf. Mitten im 1 Schlachtengetümmel wirkte er in Wort und Tat gegen den Krieg und für den Völkerfrieden. Nach Beendigung desj. blutigen Krieges; als der Krieg mit anderen Mitteln/ der sogenannte Friede, ausbrach, hörte Rolland nicht auf vor den neuen Kriegsgefahren, die dieser „Friede" in sich oirgt, zu warnen. ;
In dieser Welt der niedrigen Geldgier, des ethischen Verfalls, ist Romain Rolland einer der wenigen,, der größte unter denen, die in den Menschen den Glauben an eine bessere und schönere Welt aufrecht erhalten, die das Leben noch lebenswert machen.
Wir jüdische Arbeiter, die unterdrückte Klasse eines gehetzten und unterdrückten Volkes, wissen dasi ganz besonders zu würdigen.
Wir entbieten der großen Persönlichkeit Romain Rolland unseren allerherzlichsten Grußl
Menachem.
Zwei Jubilare.
Dr. Chaim Shytlowsky.
Chaim Shytlowsky ist 60 Jahre alt geworden. Das bedeutet 40 Jahre inhalts- und kampfreicher Tätigkeit für die jüdische Renaissance, für den jüdischen Sozialismus. Shytlowsky irrt nicht, wenn er von sich; selbst behauptet, daß er den Grundsätzen, die er in seiner im Jahre 1892 in russischer Sprache erschienenen Schrift unter dem Titel: „Jewrej' ku Jewream" („Ein Jude an Juden") niedergelegt hat, treu geblieben ist.
Bezüglich der Judenfrage formulierte damals 1 Shytlowsky u. a. folgende Feststellungen und Forderungen:
1. Sozialismus' und Nationalismus bilden keine Gegensätze.
2. Die Proklamierung der Selbständigkeit des jüdischen Volkes.
3. Die Feststellung der Existenz einer jüdischen Arbeiterklasse in Rußland, daher die Berechtigung einer jüdischen Arbeiterfrage, einer jüdischen Arbeiterbewegung und eines jüdischen Sozialismus.
4. Die sozialistische Analisierung der ökonomischen Lage der Juden und deren parasitärer Charakter. Die Notwendigkeit eines jüdischen Agrar- SozialismuS;
Diese Grundsätze klingen uns heute selbstverständlich, ja beinahe banal 1 , aber vor 33 Jahren gab es kaum einige wenige, die den Forderungen Shytlowskys das richtige Verständnis entgegengebracht haben. Sogar die nächsten russischen Gesinnungsgenossen Shytlowskys, die diese Schrift herausgegeben haben, hielten es für notwendig, sich gegen seine übertriebenen Forderungen zu verwahren. Daß fast alle Forderungen heutzutage Seibätverständlichkeiten sind, ist zum Teile auch ein Verdienst des Doktor Shytlowsky. Im Laufe von 33 Jahren hat ShytlOws'ky sein ganzes Wissen und Können, sein unvergleichliches Redhertalent und seine wundervollen populärwissenschaftlichen Arbeiten auf die Ausgestaltung und Präzisierung dieser Grundsätze konzentriert. Seine ruhmreiche Tätigkeit ist vom Erfolg gekrönt worden.
Wenn man des Wirkens Shytlowskys gedenkt,- darf nicht unerwähnt bleiben, was 1 er als Verteidiger und begeisterter Verehrer der jiddischen Sprache geleistet hat. Er war einer der ersten, die den Rlesgekt .vor der Sorache des' Volkes, vor allem gegen die eigenen volksfremden /Wortführer, verteidigt hat. .Wenn die Massen des jüdischen Volkes heutzutage mit Achtung und Liebe an ihrer Sprache hängen, hat? auch das Wirken Shytlows'kys viel dazu beigetragen.
Aber die Einschätzung, oder richtiger, die Ueber- schätzung der jiddischen Sprache, ist der schwächste Punkt im Denken Shytlowskys. Hier offenbart sich deutlicher als* bei allen andern Gelegenheiten dasi unmarxistische in den Anschauungen dieses ausgezeichneten Denkers. Ein Genosse hat einmal Shytlowsky als den jiddischistischen Achad Haam bezeichnet. Und diesen Vergleich halten auch wir, was die Einschätzung der Sprache betrifft, für richtig. Achad Haam und Shytlowsky betrachten die geistige Kultur als souverän. Das ist sie aber auf keinen Fall. Die geistigen Schöpfungen eines Volkes befinden sich in einem ursächlichen Zusammenhang! mit seiner materiellen Kultur. Gewiß, lebt der Mensch