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, in der Gesinnung sein, die wir als religiös bezeichnen sollen. Ist sie heiter, so darf sie doch nicht grinsen und nicht kichern; ist sie traurig, so darf sie doch nicht schreien und nicht fluchen. Ich möchte grade für den Ernst der religiösen Erfahrung Verständnis wecken. . . . Das Göttliche soll für uns eine solche höchste Wahrheit sein, der der Mensch feierlich und ernst gegenübertreten muß, weder mit einem

Fluch, noch mit einem Scherz 1 /'

Im Unterschied von der ruhigen Klarheit ähnlicher philoso- phischer Stimmungen, in denen das Universum ,,hingenommen wird, ist Religion eine gewaltige Erschütterung und Erweiterung unserer Gefühlswelt, eine Freude am Absoluten und Ewigen, die von aller sinnlichen Freude durch jenes Moment feierlichen Ernstes unter- schieden ist.

Das Absolute und Ewige, das Göttliche aber wird in der religiösen Erfahrung nicht nur vorgestellt, sondern als gegenwärtig und wirk- sam empfunden. Die R e a 1 i t ä t s g e f ü h 1 e sind für diejenigen, die sie haben, so überzeugend wie irgend welche sinnliche Erfahrungen nur sein können und gewöhnlich überzeugender, als die Ergebnisse der reinen Logik. Aber man kann freilich auch ganz ohne diese Gefühle sein, und bei vielen sind sie nur wenig ausgeprägt. Aber wer sie hat und nur einigermaßen stark hat, der wird sich ge- zwangen fühlen, sie als unmittelbares Schauen der Wahrheit anzu- sehen, als Offenbarung einer Art von Realität, und kein Gegenbeweis, sollte er auch mit Worten nicht zu widerlegen sein, wird ihm seinen Glauben rauben. Wohl meint der Rationalismus den Wahrheits- anspruch solcher Intuitionen verneinen zu können, doch bezieht er sich selbst nur auf die Oberfläche des Daseins. Das ganze unter- bewußte Leben, die Triebe, die Ueberzeugungen, das Sehnen und die Ahnungen bleibt ihm verschlossen; ,,Hat' jemand überhaupt In- tuitionen, so kommen sie aus dem tiefen Innern der menschlichen Natur, nicht von der geschwätzigen Oberfläche, die der Rationalis- inus beherrscht 2 / Darum wird niemand vom Rationalismus her zu erschüttern sein, wenn die stillen Intuitionen den betreffenden Schlüssen entgegengesetzt sind. Darum spielt der Rationalismus nur eine untergeordnete Rolle bei der Begründung des Glaubens, sei es, daß er für die Religion eintritt oder sie bekämpft. In Wahr- heit beweisen verstandesmäßige Gründe in der Sphäre der Religion nur dann, wenn unsere rein empfindungsmäßigen Realitätsgefühle schon zu Gunsten der betreffenden Annahme gesprochen haben. Die unmittelbare Ueberzeugung liegt tief in unserem Innern, der logische Beweis ist nur die äußere Darbietung, der Instinkt hat die Führung, der Verstand folgt nach.

Ist aber Religion das Ergriffen werden vom Göttlichen, so hat das Gefühlsbewußtsein doch Verschiedenheiten je nach dem Tem- perament des Frommen. Die Religion des Sanguinikers ist anders, als die des Melancholikers. Der fromme Melancholiker macht selbst aus seinem heiligen Frieden etwas sehr Ernstes. Ganz anders der Sanguiniker, dem sein Gotteserleben die Quelle des Enthusiasmus

1 James: Religiöse Erfahrung, S. 30.

2 James : ebenda, S. 59.