Zur philosophischen Charakteristik Wilhelm Jerusalems.

Von Ernst Müller in .Wien.

Wenn auch nicht als Bahnbrecher auf den Gebieten fachmäßiger ״ Philosophie, die ja kaum mehr die Möglichkeit bahnbrechender Br- neuerung zu bieten scheinen, aber doch als denkerische Persönlichkeit ganz origineller Art wird der vor mehr als Jahresfrist verstorbene Wilhelm Jerusalem in der Erinnerung aller verbleiben, die ihn als Lehrer, als Vortragenden oder persönlich kannten. Wäre es vielleicht verfrüht, ihm sozusagen seinen Platz in der Geschichte der Philosophie einzuräumen, so mag andererseits der noch lebendige ־־ menschliche Nachglanz seiner Persönlichkeit auch das geistige Bild seines Lebenswerkes erhellen helfen. ' / -

Tn seinen gedanklichen Linien ist es am besten der von Jerusalem selbst wie ein Testament gegebenen Selbstdarstellung seiner Philo- Sophie 1 zu entnehmen. Die Ausgangs- und Anknüpfungspunkte seines Systems liegen auf den Gebieten der Psychologie und Er- kenntnistheorie, welchen sich als Nebenzweig die Aesthetik anreiht, seine zentrale Tendenz in der Richtung der sozialen Ethik. Das persönliche Erlebnismotiv, das Jerusalem überhaupt zur philo- sophischen Betätigung brachte, lag in seiner Lehrtätigkeit. Und so schwebt das Seelenelement des begeisterten Lehrers auch über seiner ganzen akademischen wie literarischen Tätigkeit, wie ja auch nicht zufällig sein ,,Lehrbuch der Psychologie und mehr noch seine ,,Ein- leitung in die Philosophie die weiteste Verbreitung fanden, letztere auch in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. In dieses Werk, das in immer neuen und stärkeren Auflagen 2 erschien, hat Jerusalem auch die jeweiligen Fortschritte seines Gedankensystems hinein- verarbeitet. Seine psychologischen Untersuchungen beginnen mit dem verborgenen Seelenproblem der Taubstummblindheit 3 : seine Erkenntnistheorie und Logik schließen sich in der Betonung der selbständigen Wahrheitsfunktion im Urteil an die Richtung Br en - t a n o s an, um in einem noch zu besprechenden bedeutsamen Punkte, der ״ fundamentalen Apperzeption eine neue Wendung zu nehmen 4 . Vor allem ist es der durch seine unterrichtliche Tätigkeit angeregte sprachpsychologische Sinn, der auch das logische Element in seiner konkreten Manifestation beleuchtet. Den Grund des Aesthetischen 5 erblickt Jerusalem in der reinen Funktionslust und will die Liebe nicht nur als Folge, sondern auch als Ursache des Schönen betrachten.

Die ganze philosophische Erscheinung Jerusalems zeigt, doch einen merkwürdigen Widerspruch, der freilich von der harmonischen Veranlagung seiner Gesamtpersönlichkeit derart überwunden wurde, daß er ihm denkerisch fast gar nicht ins Bewußtsein kam. Einem gewissen Zuge der Zeit folgend, wollte Jerusalem das im Sinne der

1 In: ״ Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. III, Leipzig 1922.

2 Siehe seine Habilitationsschrift über Laura Bridgman. Wien 1891.

3 Siehe sein Buch: ״ Die Urteilsfimktion. Wien 1895.

4 Die 1. Auflage erschien 1899, die letzte, 7. und 8. 1919.

5 ,,Wege und Ziele der Aesthetik. Wien 1906.

Monatsschrift, 68. Jahrgang. 18