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Heute, am 8. Adar, da es ein halbes Jahrhundert ist, daß er in die Ewigkeit eingegangen, will ich, der freundlichen Aufforderung der geehrten Redaktion freudigst Folge leistend, unserem hoch- verdienten Meister in pietätvoller Dankbarkeit ein bescheidenes Gedenkblatt widmen.

Die Mischnah Sabb. 11 4 , die, wie hier gezeigt werden soll, den Männern des dritten Amoräer-Geschlechtes in fehlerhaft schrift- licher Fassung Vorgelegen hat, lautet: ־הזורק בים ארבע אמות בטור, אם היה רקק מים, ורה״ר מהלכת בו, הזורק לתוכו 1 ארבע אמות חייב, וכמה הוא רקק מים, פחות מי״ט, רקק מים ורה״ר מהלכת בו הזורק בתוכו ארבע אמות חייב . Die alte Frage, ob die Mischnah schrift- lieh oder bloß mündlich von Geschlecht auf Geschlecht weiter vererbt wurde, wird selbst in unseren Tagen noch nicht als end- gültig gelöst angesehen. Ich persönlich bemühe mich in meinem hebräischen Tosifta - Kommentar zu den Sedarim Seraim, Moed und Nesikin durch den Nachweis von Schreibfehlern in Mischnah und Tosifta die Lösung zu fördern und allmählich herbeizuführen. Darum glaube ich auch, dem unsterblichen Geiste meines verewigten Meisters heute keine ehrfurchtsvbllere Huldigung darbringen zu können, als indem ich durch die Aufdeckung eines Kopisten-Fehlers für seine Auffassung in der erwähnten Frage einen neuen Beweis anführe. Zu meiner Zeit waren an unserem Breslauer Seminar die Ansichten geteilt. Während Frankel die schriftliche Fixierung der normativen Halachoth als etwas Feststehendes annahm, behauptete Graetz, daß es aufs strengste verboten war, Halachoth aufzuschreiben. Im Darche ha ־ Mischnah, S. 217 ff., werden Scherira und Maimuni als Vertreter der ersten, Raschi hingegen als Verfechter der zweiten Ansicht bezeichnet, und indem er das Pro und Contra gewissenhaft einander gegenüberstellt, gelangt Frankel zu dem Ergebnis, daß im Lehrhause die Halachoth mündlich vorgetragen und besprochen wurden, daß jedoch außerhalb des Lehrhauses schriftliche Auf- Zeichnungen gemacht und benützt wurden. Graetz 2 hingegen ver- tritt die Ansicht, daß der Ausspruch R. Jochanans כותבי הלכות כשורפי התורה buchstäblich aufzufassen sei. Nun, bei aller dank- baren Verehrung, die mich auch für diesen meinen verewigten Lehrer stets beseelte, habe ich doch schon vor 45 Jahren gezeigt, daß aus den Prämissen Graetzens den seinen entgegengesetzte Schlüsse ge- zogen werden müssen 3 . Graetz führt wohl Scherira als Gewährsmann an, unterläßt es jedoch, die Widersprüche hervorzuheben, in welche der Gaon in seinem Sendschreiben sich verwickelt, und die nur im Sinne Frankels durch eine Distinktion zwischen offizieller und privater Niederschrift gelöst werden können. Es ist auch nach meinem Dafürhalten ein großer, auf Kurzsichtigkeit beruhender Fehler, wenn man immer wieder und wieder das Diktum R, Jehudah

1 So ist die Lsa. במשבגים ; die Lesarten der Mischnah-Ausgaben variieren; die meisten haben mit der edit. Napoli לתוכו , andere wieder בתוכו ; der Jeruschalmi liest beide Male בתוכו , die Cambridger Ausgabe ( &ת 3 י תא דתלמודא דבכי מערבא ) hat das erste Mal בתוכו , das zweite Mal לתוכו .

2 Vgl. Monatsschrift 1873, p. 3541.

3 Siehe meine Tosifta des Traktates Sabbath, Karlsruhe 1879, p. .9496* Anmerkung.