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Die Lehren einer Religion sind niemals ihr Leben selbst. Sie sind bloß dessen Schatten, sagen wir: dessen Projektion auf die Ebene des Rationalen. Man hat mit Recht von jüdischer Seite betont, daß man den Sabbat und den Sonntag nicht nach Lehren und Gesetzen beurteilen darf, sondern weit eher nach * לכה דודי oder Schäfers Sonntagslied. In der religiösen Dichtung entfaltet sich, an ihr verjüngt sich das religiöse Leben. Aber die S.abbatiyrik geht in den Plan eines apologetischen Sammelwerks nicht ein — während die (an anderer Stelle zu besprechende) Sammlung von Hertz auch פ*וטיס bringt 1 * . Und nun gar von der religiösen Glut, die sich in den echten Synagogen- melodien auswirkt, von dem Drang nach חב״ב ד.מצ י ות , der zur Verschönerung der Synagdgengeräte und der Handschriften geführt hat, ist nicht die Rede -kan n in diesem Schema nicht die Rede sein. Und doch wird die sonder- bare Meinung, das Judentum sei eine Religion reiner Aeüßerlichkeit (weil es eben, der Betrachter nur von ״ außen“ sieht), durch den Blick auf die Aus- Wirkung dieser ewig jungen Formkräfte jüdischen Lebens weit kräftiger wider- legt als durch die schönsten Aussprüche, so verdienstlich deren Sammlung auch sein mag.
Eher gestattet eine Sammlung, wie die vorliegende, einen Schluß auf die Ethik des Judentums. Und doch geht auch hier das Schönste durch den Filter durch. Die besten und .feinsten Kundgebungen eines Volkes über seine Ethik sind gerade diejenigen, die n i c h t in Worten a u s g e s p r och e n werden, weil die Giltigkeit der ethischen Grundsätze zu selbstverständlich ist, um zum Problem zu werden und nach Ausdruck zu drängen. Auch in der Ethik gilt der Satz: ״ spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr‘ 6 . Wie etwa das Judentum über die Behandlung fremden Eigentums denkt, beweist vor allem jener Midrasch, nach welchem Abraham seine Kamele nur mit Maulkörben austreiben ließ und Mose die Lämmer aus gleichem Grunde in die ,,Wüste“ trieb; offenbar kommt hier der Midraschlehrer gar nicht auf den Gedanken, daß das Eigentum von Heiden keiner Schonung bedürfe. Die unbefangene Wertschätzung heidnischer Frömmigkeit zeigt das Juden- tum. — besser als durch Aussprüche — durch die Verlegung eines reli- giösen Gespräches auf heidnischen Boden (Hiob), durch die Beliebtheit eines Buches, wie Bachjas Herzenspflichten, das auf Schritt und Tritt nichtjüdische Weise zitiert, und durch die Vorführung der frommen Heiden des Buches Jona im Gottesdienst für den Versöhnungstag. Alle diese unbewußten und ungewollten Zeugnisse gehen aber in das Schema unseres Werkes nicht ein. Und doch gilt der Satz der Hälacha, daß der מסיח לפי תוכי besonderes Ver- trauen verdient, ganz besonders von Zeugnissen über eigene Ethik.
Gleichfalls durch apologetische Gründe ist die Auswahl der nicht- j tid i s ch e.n Z i t a te bestimmt. In einer apologetischen Sammlung haben sie ihre volle Berechtigung: wir müssen in der Lage sein, ungünstigen Zitaten aus Bousset oder Wellhausen günstige gegenüber zu stellen, ganz gleichviel, ob diese Gelehrten vom talmudischen Judentum etwas verstanden haben oder nicht. Und es ist nicht unsere Sache, neben den günstigen die ungünstigen Zitate aufzuführen: das besorgt ja der Gegner schon. Läßt aber der Leser diesen apologetischen Zweck der Zitate aus dem Auge, so könnte ihm unsere Sammlung leicht den falschen Eindruck erwecken, als suchten die Bearbeiter das Bild, das sich Nichtjuden vom Judentum gemacht haben, freundlicher hinzustellen, als es gewesen ist. Es wäre daher nicht über- flüssig, auch zu diesen Sammlungen eine ״ Einleitung 6 ׳ zu schreiben. Sie hätte das — immerhin nicht völlig unwichtige — Problem der Beurteilung des Judentums durch die Umwelt allseitig zu beleuchten: also anzu- e-rkennen, daß das antisemitische Bild grell übertrieben ist und daß uns oft Nichtjuden wie Herder Reize der Bibel erst enthüllt haben, — daß aber das Judentum, wie es Widerspruch gegen Wertungen seiner Umwelt erhoben, so auch solchen g e f u n d e n hat, teils aus Unkenntnis der Beurteiler (hier wären Stellen aus Herford, Moore, Stärk anzuführen), teils aber wegen der Verschiedenheit der Maßstäbe: es gereicht uns nicht zur Schande, daß die Griechen über unsere Sitte, ״ alle Kinder aufzuziehen“ (also sie nicht auszu- setzen), den Kopf schüttelten, und daß Tacitus den Sabbat nur aus der Faul-
1 Ein paar Verse bringt freilich auch unsere Sammlung (z. B. IV 78 f.)
j— zur Illustration der Glaubenslehren!
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