Religion und Staat im nachexilischen Judentum.
Nach einem Vortrage, gehalten in der Hauptversammlung der Gesellschaft zur Förderung des Judentums am 18. Februar 1925.
Von Hermann Vogelstein in Breslau.
In einer bekannten Stelle kennzeichnet Josephus die Anders- artigkeit und Einzigartigkeit der Verfassung des Judentums. Bei anderen Völkern gebe es Monarchie, Aristokratie oder Demokratie. Unser Gesetzgeber habe unter Ablehnung dieser Verfassungen das Gemeinwesen als Theokratie aufgerichtet, Gott die Herrschaft und die Macht zuweisend 1 .
Unter dem Einfluß dieser Aeußerung des Josephus stand und steht z. T. noch heute die geschichtliche Betrachtung. Aber schon vor einem halben Jahrhundert hat Wellhausen mit Recht bemerkt, daß ,,hinter dem Namen Theokratie sich die Konfusion zu verbergen pflegt“. Unmittelbar zuvor sagt Wellhausen, die mosaische Theo- kratie sei ,,ein unter ungünstigen Bedingungen durch eine ewig denk- würdige Energie geschaffenes unpolitisches Kunstprodukt“; ,,sie hat die Fremdherrschaft zur notwendigen Ergänzung“ 2 * * . In diesem Urteil mischt sich richtige Beobachtung und Falsches. Das Wort Theokratie zeigt das Problem des Verhältnisses von Religion und Staat zueinander, das vielleicht das zentrale Problem des nach- exilischen Judentums des zweiten Tempels ist. Aber dieses Wort gibt in keiner Weise eine Lösung des Problems, um das man bewußt oder unbewußt gerungen hat. Vielmehr dient dieses Wort, das selbst erst einer klaren Begriffsbestimmung bedarf, vielfach dazu, die Er- kenntnis der geschichtlichen Tatsachen zu verdunkeln. Die Ent- Wickelung verläuft nicht geradlinig. Immer wieder haben die äußeren Verhältnisse und die Veränderungen der geistigen Lage das Problem anders gestaltet, wiederholt scheint die Entwickelung im Kreislauf zu dem Ausgangspunkt zurückzukehren, und doch haben wir auch hier wieder das Problem in neuer Form vor uns, weil die beiden Faktoren, Religion und Staat, sich inzwischen gewandelt haben. Der Niederbruch in dem Kriege gegen Rom und die Zerstörung des zweiten Tempels durch Titus hat dieses Problem aus der Entwicke- lung des Judentums ausgeschaltet, wie die Zerstörung des ersten Tempels und die Auflösung des Reiches Juda es erst hat erstehen lassen. Das aber läßt sich aus der Geschichte erkennen, daß die Aus- Schaltung des Problems nur die letzte Phase einer Entwickelung war, deren große Linie, wie immer sie im einzelnen umgebogen und ab- gebogen war, auf diese Lösung abzielte.
Im alten, vorexilischen Israel bestand für die volkstümliche An- schauung das Problem so wenig wie irgend einem andern Volk der alten Welt. Religion und Staat waren Gegebenheiten, aneinander- gebunden, miteinander zur Einheit verwachsen. Jedes Volk,
1 Josephus c. Ap. 2, 164.
2 Wellhausen, Prolegomena 5 428; vergl. bereits die erste Auflage
(Geschichte Israels) S. 439.
Monatsschrift, 69. Jahrgang.
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